Wenn ich König wäre: Eine kleine Erzählung
Neue Köpfe müssen her, um die drängenden Probleme zu lösen! Lasst uns deshalb einen neuen König wählen!Wer träumte nicht ab und zu davon, als König weise und gütig zu herrschen? Die Verlockung, Macht positiv einzusetzen, wurde unzählige Male in der Populärkultur aufgegriffen. Als Beispiele hierfür sollen Johannes Trojans Gedicht "Wenn ich König wäre" und Rio Reisers bekanntester Song "König von Deutschland" dienen. Auf die Ironie, dass Reiser später ausgerechnet der PDS beitrat, wollen wir nicht näher eingehen, sondern anhand einer kurzen Erzählung eingehender beleuchten, was am Mythos des "gerechten Herrschers" dran ist.
Es war einmal ein Herrscher, der mit eiserner Faust über das Land regierte. Welches Land? Nun, jenes Land, das er in Übereinstimmung mit anderen Herrschern willkürlich zu "seinem" Land erklärte. Wie alle Herrscher in den Königreichen rund um den Erdball herum, betrachtete er seine Herrschaft nicht nur als legitim, sondern sogar als notwendig, um die Untertanen daran zu hindern, sich gegenseitig umzubringen. Denn, nicht wahr, ohne ihn und seine Vasallen würden Chaos und Gewalt ausbrechen! Viele Bürger seines Volkes jubelten ihm zu, da sie von seiner Herrschaft profitierten, was es schier unmöglich machte, die Tyrannei zu beenden.
Eines Tages aber geschah das Unmögliche: Der Herrscher hatte den Bogen überspannt und wurde von den wütenden Massen vertrieben. Nachher wusste niemand mehr zu sagen, was das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. War es eine weitere Steuer gewesen, die den Unmut geschürt hatte? Ein neues Gesetz? Sein extravaganter Lebensstil? Was es auch gewesen war, es spielte keine Rolle mehr. Denn an seiner Statt inthronisierte man einen neuen König. Nicht einfach irgendeinen König, nein, einen gütigen, gerechten! Das Volk hatte ihn auserwählt, galt er doch als weise, sanftmütig und gänzlich unparteiisch. Wenn es je einen gerechten Herrscher gegeben hatte, dann ihn! Lobet den König! Jubelt ihm zu! Preiset ihn, o Kinder des freien Königreichs!
Der neue König hielt sich keine Sekunde lang mit Nebensächlichkeiten auf und mistete den Augiasstall seines Vorgängers mit dem güldenen Zepter der Macht aus. Er ließ die Kerker öffnen und schenkte den Gefangenen die Freiheit; er verbrannte die Gesetzestexte, die ganze Bibliotheken belegten und die nur dazu dienten, den Bürgern das Geld aus der Tasche zu ziehen und sie jederzeit angeblicher Verfehlungen anklagen und ins Gefängnis werfen zu können; er teilte den Staatsschatz gerecht unter seinen Bürgern auf und versprach, dass ein neues Zeitalter anbrechen würde. Das Volk jubelte ihm zu.
Noch ehe er und seine Berater daran gehen konnten, neue und gerechte Gesetze zu verfassen, murrten die Staatsdiener. Was war mit ihrem Sold? Wovon sollten sie sich und ihre Familien ernährten? Schließlich hatten sie ihre ganze Existenz auf der Gewissheit errichtet, vom Herrscher des Reiches entlohnt zu werden. Dem König lagen allerlei Beleidigungen auf der Zunge. Doch ehe er sie ausspucken konnte, rieten ihm seine Berater, seine Worte weise zu wählen. Ohne ihre Dienste wäre der Herrscher ein Papiertiger. Wer würde seinen Anweisungen Folge leisten? Wer das Volk administrieren? Wer die Grenzen verteidigen? Schweren Herzens schwor der König, sie zu entlohnen. Doch mit welchem Geld, jetzt, nachdem der Staatssäckel leer war und es keine Steuern gab, sie zu füllen? Vielleicht, so der König, würden seine Untertanen aus freiem Herzen einen Teil ihrer Einnahmen, die sie zu 100 Prozent behalten durften, abgeben. Gewiss würde ihnen die Unmöglichkeit, einen Staat ohne jegliche Einnahmen führen zu können, einleuchten. In alle Teile seines Reiches sandte er Getreue hinaus, für die edle Sache Gold- oder Silbermünzen zu sammeln. Wochen später kehrten alle seine Männer mit leeren Beuteln wieder. die Staatsdiener verloren die Geduld und drohten ganz offen mit einem Umsturz, woraufhin der neue König ihnen einen höheren Sold versprach, so sie ihm nur einen Tag Aufschub gewährten.
Es erwies sich somit als evident, dass ein Reich ohne Steuern nicht zu finanzieren war. Eilends rief der weise Herrscher seine Berater zusammen und ließ sie eine Steuer austüfteln, die den Staatssäckel ausreichend füllen würde, ohne das gemeine Volk finanziell zu belasten. Die neue Steuer trat in Kraft und betraf lediglich die reichen Bürger des Landes. Wie genau berechnet wurde, ob ein Bürger reich oder nicht reich sei, verstand der König zwar nicht. Aber seine Berater würden gewiss keinen Verrat an den edlen Ideen begehen! Naturgemäß zeigten sich die mit Steuern belegten Bürger nicht erfreut, ganz im Gegenteil: Es wäre doch ungerecht, dass sie einen großen Teil ihres Vermögens hergeben müssten, während ihre nur unwesentlich "ärmeren" Nachbarn ihren Besitz zur Gänze behalten dürften. Und weshalb müssten sie für die gesamte Finanzierung des Staatsapparates herhalten, wenn sämtliche Bürger des Reiches die Infrastruktur nutzen dürften? Das sei ungerecht, meinten sie, und insgeheim musste ihnen der König recht geben. Er entgegnete ihnen, dass sie auf diese Weise den ärmeren Bürgern helfen würden und den inneren Frieden des Reiches sicherten. Aber den Reichen war dies kein Trost und sie ließen durchblicken, dass sie hinkünftig weniger fleißig agieren würden, um nicht mehr als reich zu gelten. Einige gaben sogar an, das Land zu verlassen.
Die Berater des Königs waren sich darin einig, dass diese Drohungen das Wohl des Staates gefährdeten. Folglich beruhigte man die Reichen, indem man auch die weniger Reichen besteuerte. Auch diese wiesen auf Ungerechtigkeiten hin: Wieso müssten sie Steuern bezahlen, während ihre Nachbarn gar keine bezahlten? Einige empörten sich gar über die fürstliche Entlohnung vieler Staatsdiener, deren Einkommen weit über jenen der Arbeiter und Bauern lagen. Um die Unzufriedenen fürs Erste zu beruhigen, erfand der König Behauptungen, wie etwa jene, dass ohne ihn und seine Staatsdiener Chaos und Gewalt über das Land kämen. Und mehr noch: Hätten seine Untertanen nicht bemerkt, mit welchen gierigen Augen die Nachbarvölker den Wohlstand seines Reiches neideten? Die Vermögenden des Volkes müssten doch einsehen, dass gewisse Ausgaben notwendig seien, um ihr Vermögen und ihr nacktes Leben zu schützen. Nicht nur gegenüber äußeren Feinden, sondern auch gegenüber den ärmeren Mitbürgern, die ohne den Schutz durch den Staatsapparat wütend die Vermögenden plündern und lynchen würden. Zähneknirschend akzeptierten die Steuerzahler seine Argumente.
Aber der Probleme zeigten sich immer mehr. Mit dem bloßen Auftreiben von Geld war es längst nicht mehr getan. Eines Tages erschienen Männer und Frauen in seltsamen Gewändern und beklagten sich darüber, dass man ihnen Unrecht tue. Sie seien Anhänger des einzig wahren Gottes und würden von ihren Mitmenschen verspottet werden. Manchen hätte man sogar offene Gewalt angedroht! Weshalb sie der König nicht schütze - läge ihm an ihnen gar nichts? Dies war natürlich nicht wahr, weshalb der Herrscher augenblicklich Gesetze erließ, die das Verspotten der Anhänger der einzig wahren Religion unter Strafe stellte. Dies wiederum erzürnte die Religionslosen, woraufhin der König in seiner Weisheit eine Schlichtungsstelle schuf, die bei Konflikten klären sollte, ob den Gläubigen Unrecht angetan werde oder nicht. Dafür mussten natürlich wiederum viele neue Gesetze geschaffen werden, für deren Verständnis man an der Universität studiert haben musste. Einer königlichen Universität, die wiederum von den Steuern finanziert wurde.
Damit waren der Begehrlichkeiten nicht annähernd Genüge geleistet. Immer mehr Bürger wandten sich mit der Bitte an den Herrscher, sie vor ihren Mitmenschen zu schützen. Manche fühlten ihre moralischen Werte unterwandert, manche wähnten sich unterdrückt, andere wiederum sahen ihre Geschäfte in Gefahr, weil ein Konkurrent günstiger produzierte und ihre Verkaufspreise unterbot. Beispielsweise produzierten die Webereien des nördlichen Nachbarreiches Kleidung, die an Qualität jedem heimischen Weber überlegen war und dennoch günstiger auf den Märkten verkauft wurde. Deshalb verhängte der weise König Zölle, um die auswärtigen Produkte zu verteuern und somit die Weber des eigenen Reiches vor der Konkurrenz zu schützen. Die Weber jubelten, aber nicht das gemeine Volk, das plötzlich einen höheren Preis für die Kleidung bezahlen musste. Sollten die Armen etwa des Nachts oder im Winter frieren, weil sie sich die Kleidung nicht mehr leisten konnten? Dies wollte der König natürlich nicht zulassen und schenkte jedem von ihnen allmonatlich ein Goldstück.
Dafür liebten ihn zwar die Armen, jedoch nicht die Steuerzahler, die wiederum höhere Abgaben leisten mussten. Der König vermochte sie kurzfristig milde zu stimmen, indem er von einer gerechten Umverteilung des ungerecht verteilten Vermögens sprach. Einige Bürger seines Volkes waren mit dieser Erklärung nicht zufrieden und fanden es ungerecht, immer größere Anteile an ihren Einkommen den Steuereintreibern bezahlen zu müssen. Es gärte im Volk, und eines Tages erklärten Agitatoren, der neue König sei keinen Deut besser als der alte Herrscher. Des Königs Berater hielten ihn dazu an, die stimmstärksten Aufwiegler in den Kerker zu werfen, ehe es zu einer Revolte kommen würde. Dies gefiel dem König gar nicht, hatte er sich doch geschworen, die Kerker nie wieder zu füllen. Aber nach kurzer Bedenkzeit sah er ein, dass dies für alle das Beste sei. Er hatte ein neues Wort gelernt: Gemeinwohl.
Gemeinwohl trat an Stelle der altmodischen Freiheit. Alle hatten für die Gemeinschaft ihre Dienste und Pflichten zu leisten, damit das System nicht aus den Fugen geriet. Und war es nicht ein gerechtes System? Oder allenfalls ein gerechteres als jenes, das der alte Herrscher hinterlassen hatte? Zweifellos! Wer daran Zweifel hegte, musste ein Feind des Gemeinwohls sein und folglich hart bestraft werden. Eine Zeitlang hatte es der König ohne Strafen versucht. Aber dies hatte natürlich zu einem Verlust seiner Autorität geführt. Wie sollte das Volk seinen gerechten Anweisungen Folge leisten, wenn er Fehltritte nicht sanktionierte? Hinter vorgehaltener Hand argwöhnten manche Aufrührer, der König selbst agiere wider das propagierte Gemeinwohl, fett und selbstgerecht geworden, wie er in jenem Schloss hauste, dessen Unterhalt aus ihrer Steuern finanziert wurde. Ganz zu schweigen von den Staatsdienern, die mit immer neuen Forderungen an ihn herantraten und im Falle der Verweigerung ihrer Wünsche mit Rebellion drohten. Und weshalb wohl galten viele Regeln und Gesetze für die Freunde des Königs nicht?
Viele Jahre lang galt das Königreich als Vorbild für die angrenzenden Staaten. Gewiss: Die Steuern waren hoch, was Fleiß und Einsatz bestrafte, viele Staatsdiener lebten überaus üppig, während vielen Steuerzahlern, die ihre Solde bezahlen mussten, gerade genug zum Überleben verblieb, die falsch gewählten Worte konnten einen in den Kerker bringen und unablässig waren Heerscharen an Staatsdienern damit beschäftigt, die noch verbliebenen Ungerechtigkeiten mit immer neuen Gesetzen und Strafen auszugleichen. Aber niemand musste Hunger leiden und im Vergleich zu anderen Staaten lebten die Bewohner des Königreichs in durchaus behüteten und friedlichen Verhältnissen.
Bis zu jenem Tag, an dem Ungeheuerliches ans Tageslicht drang: Die Schatzkammern waren nicht mehr mit Gold, sondern mit Schuldscheinen gefüllt! Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht. Der neue Schatzmeister hatte rasch eine Erklärung parat: Die eingetriebenen Steuern hatten von Beginn weg nicht ausgereicht, all die Staatsdiener, Schulen, Straßen, Brücken, Bürgerhäuser, Amtsgebäude, Wohlfahrtsgoldstücke, und vieles, vieles mehr zu finanzieren. Deshalb mussten Kredite aufgenommen werden, für die wiederum Zinsen zu begleichen waren. Ein paar Jahrzehnte lang sei dies gut gegangen, bis heute, da das Königreich selbst mit all seinen Steuereinnahmen nicht einmal mehr die Zinsen bezahlen könnte.
Dermaßen ungeheuerlich war diese Erklärung, dass sie den naiven, jungen Schatzmeister den Posten kostete. Er wurde mit Schimpf und Schande aus seinem Amt gejagt und durch einen Mann ersetzt, der eine weitaus wohlfeilere Erklärung parat hielt: Schuld trügen zum einen die Reichen, die einfach nicht genug an fairen Abgaben bezahlt hätten. Zum anderen hätten dunkle Mächte den arglosen König mehr oder weniger gezwungen, ihre vermeintlich günstigen Schuldscheine zu akzeptieren. Wie hätte der König wissen sollen, dass die Zinseslast irgendwann die gesamten Einnahmen vertilgen würde? Er hatte doch stets nur nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt! In seiner grenzenlosen Naivität und Gutmütigkeit hatte er aber sein Volk in den Ruin getrieben und die Steuereinnahmen künftiger Generationen eben jenen dunklen Mächten überantwortet. Immer mehr und länger würde das Volk - ausgenommen natürlich die Staatsdiener - arbeiten müssen, um sich über Wasser halten zu können, während der Großteil ihres Erwerbs den Gläubigern ohne jegliche Gegenleistung zufloss. Die Erkenntnis, selbst die eigenen Kinder und deren Kinder in kettenloser Sklaverei zu wissen, schmerzte das Volk und schürte Wut.
Wie hatten sie so grenzenlos dumm sein können, ausgerechnet jenen Mann, der für das Schlamassel verantwortlich zeichnete, zu ihrem König ernannt zu haben? Ehe ihn seine Untertanen aus dem Schloss vertreiben konnten, verzichtete der Herrscher auf das Königsamt und zog sich aufs Altersteil zurück. Das Volk lernte indes aus seinem Fehler und erkor euphorisch einen neuen König, der zweifellos gütig und gerecht herrschen würde!