Geboren wurde Elias Canetti in Bulgarien als Sohn einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie. Sein Vater verstarb unerwartet jung, als man sich in England niedergelassen hatte. Die Mutter blieb mit ihren Kindern zurück und sah sich den Wirren des ersten Weltkrieges ausgesetzt. Es folgten mehrere Umzüge. Schließlich ließ sich die Familie in Wien nieder. Wien war damals ein Zentrum der intellektuellen jüdischen Elite. Sigmund Freud ist sicher einer der bekanntesten Namen darunter.

Die Provinz des Menschen

Die Canettis waren ebenfalls jüdischer Abstammung. Genauer gesagt waren sie spaniolisch-jüdisch. So bezeichnen sich Juden und deren Nachfahren, die ursprünglich von der iberischen Halbinsel stammten und von dort bereits im 15. Jahrhundert vertrieben wurden. 

Canettis Mutter war sehr an Kultur interessiert und veranstaltete Lesungen und literarische Zirkel. Sie ermunterte Elias in seinen ersten Versuchen, eine schriftstellerische Karriere einzuschlagen. Dennoch studierte der junge Canetti zunächst halbherzig Chemie und promovierte Ende der 1929er-Jahre. Diese Zeit in Wien war geprägt von tiefgreifenden sozialen Umwälzungen. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung erlebte eine Blütezeit in Wien. Viele junge jüdische Intellektuelle unterstützen und prägten diese Bewegung kulturell und ideologisch. Doch die antisemitischen Kräfte waren damals stark – sowohl in den konservativen Kreisen, vereinzelt aber auch in der Arbeiterbewegung.

Wien, Berlin - London

In kaum einer anderen Stadt war aber die Arbeiterbewegung als kulturelle Massenbewegung jedoch so vital wie in Wien. Mit dem sozialen Wohnbau wurden Massenquartiere aus dem Boden gestampft, die architektonisch bis heute eindrucksvoll sind und an Vorläufer des modernen sozialen Wohnbaus waren. Doch realpolitisch wurden die Sozialdemokraten immer weiter abgedrängt. Es kam zu Massenaufmärschen und Protesten. Schließlich wurde auf die Arbeiter geschossen. Diese dramatischen Ereignisse hinterließen auch in der Wiener Intellektuellen-Szene tiefe Spuren. Canetti sammelte Material – über Jahre. 1939 – nach dem "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich ging Canetti ins Exil nach London.

Zuvor war es Canetti, der während eines Berlin-Aufenthalts sogar Kontakt zu Bert Brecht geknüpft hatte, den Roman "Die Blendung" zu veröffentlichen. Canetti empfand Berlin damals als hektisches "Irrenhaus" im Vergleich zu Wien, das er trotz aller politischen Aufregungen als entspannter wahrnahm. In einem Interview sagte er einmal, er hätte nie so viele "Besessene" wie in Berlin getroffen. Letztlich mündete diese "Besessenheit" in den Nationalsozialismus bzw. Faschismus.

Masse und die Religionen

Canettis Hauptwerk "Masse und Macht" erschien schließlich 1961. Der Band hat soziologische Züge, ist aber nicht als Fachwerk einzuordnen. Vielmehr trägt es essayistische Züge. Kapitel für Kapitel arbeitet er sich durch die individuelle und kollektive Psyche. Der Mensch hätte im Normalfall eher Angst vor der Berührung mit anderen Menschen. In Massenbewegungen jedoch lösen sich diese Barrieren auf. In der Gruppe können sich unterdrückte Affekte (starke Emotionen) entladen. Canetti unterscheidet zwischen offenen und geschlossenen Massen. Die geschlossene Masse formiert sich etwa in Kirchen, religiösen Gruppierungen. Über die Rituale werden die Emotionen kanalisiert. Canetti ging auf Unterschiede ein. So würde sich der Katholizismus üblicherweise auf die engen Grenzen der Klöster und Kirchen beschränken und darin die Massenemotionen auffangen. Ausnahme hätten die Kreuzzüge gebildet. Hingegen wäre der Islam eher eine Kriegsreligion. Canetti sah in den Religionen allerdings durchaus auch Positives. Denn den "Drang zur Masse" erkannte er als im Menschensein angelegt. Er sah darin wohl eine Art Trieb. - In den Religionen würden die zerstörerischen Effekte aber in gewisser Weise kanalisiert und neutralisiert.

Offene Massen

Offene Massen hingegen entstehen plötzlich. "Eine ebenso rätselhafte wie universale Erscheinung ist die Masse, die plötzlich da ist wo vorher nichts war". Und diese Massen wachsen. Für Canetti war das "Wachstum" eine natürliche Eigenschaft dieser Massen. Sie wollen größer werden, wachsen an, bis sie sich "entlädt". - Oftmals sind Zerstörungen die Folge.

Wenn sich jemand noch an die Demonstrationen der Globalisierungs-Kritiker erinnert, so weiß er aus Fernseh-Bildern, wie die friedlich angelegten Demonstrationen umkippten und in Zerstörung ausarten. Ob der sogenannte "Schwarze Block" nun von Polzei oder Diensten unterwandert war – wie oft vermutet, sei dahin gestellt. Fakt ist, dass in derartigen Ansammlungen eine Funken reicht um einen Flächenbrand auszulösen.

Hetzmassen und der Tod

Massen haben dabei nach Canetti durchaus unterschiedliche Qualitäten. Am bedrohlichsten ist vielleicht die "Hetzmasse". Diese Masse kennt ein Ziel: Das Opfer. Das Opfer wird für seinen Untergang preisgegeben. Am Ende steht der Tod des Opfers. Für die Täter ist dieses Unterfangen "gefahrlos", denn sie können sich in der "Überlegenheit der Masse bewegen." - Letztlich würden Hetzmassen ein Bedürfnis nach "Ablenkung" von der eigenen Verwundbarkeit vom Tod befriedigen. Tot ist letztlich das Opfer. Diese Passage finde ich besonders spannend, zumal die Todesverdrängung ist eines der wichtigsten Tabus der heutigen Gesellschaft ist. Auch Freud hatte sich bereits mit dem psychischen Mechanismus des Verdrängens des Todes als Endpunkt des Individuums auseinandergesetzt. Doch in keiner Gesellschaft zuvor hat sich dieses Tabu so stark in der Öffentlichkeit eingebürgert wie heute. Der Tod ist in der Werbung, im Marktgeschehen, in der durchschnittlichen Selbstwahrnehmung nicht vorhanden.

 

 

Protest, Flashmob und die Hetzmasse in sozialen Medien

Harmlos gegenüber den Hetzmassen nehmen sich unsere modernen Flash-Mobs aus. Sie verlaufen durchwegs friedlich – vielleicht sind sie einfach eine kleine Parodie auf das Phänomen der Masse. Meist nehmen daran auch durchaus bewusste, kritischere Zeitgenossen teil. Vielleicht sind sie deshalb auch ungefährlicher.

Wer aber einen Blick in die Ukraine wirft, sieht, wie Massenbewegungen eskalieren (oder eskaliert werden) können. Und die Bewegungen über die sozialen Medien zeigen oftmals eine moderne Variante der Hetzmassen. Mobbings auf Facebook an denen sich hunderte Menschen beteiligen sind keine Seltenheit mehr. - In diesem Zusammenhang fällt mir nur der Spruch ein: Auch Worte können töten.

"Masse und Macht" umfasst über fünfhundert Seiten und wer sich mit dem kollektiven Unbewussten auseinandersetzen möchte, wird mit diesem Meisterwerk bestens bedient.

 

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Autor seit 11 Jahren
61 Seiten
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