Unterirdisches in Wien

Die "Highlights" der Weltstadt Wien sind jedem bekannt – vom Rieserad bis zum Turm des Stephansdoms. Dass die Metropole an der Donau auch im Untergrund zahlreiche Höhepunkte vorzuweisen hat, wissen selbst gestandene Wiener meist nur vom Hörensagen.

"Der Wiener mit seinem Sinn für morbide Sentimentalität denkt bei der Frage, was denn das unterirdische Wien eigentlich sei, sofort an den Kultfilm ´Der dritte Mann`, an die Kaisergruft oder an den Zentralfriedhof", konstatiert der Stadtarchäologe Ortolf Harl im Vorwort zu Berndt Anwanders Führer durch Wiens "Unterstadt": "Kultur kam in dieser Vorstellungswelt bis dato nicht vor. Das hat sich in letzter Zeit etwas geändert. Denn als mitten auf dem Michaelerplatz ein kreisrundes Loch mit einem Gewirr uralter Mauern aus dem Pflaster ausgespart wurde, dämmerte es kulturell sensibleren Stadtbewohnern, dass Wien doch mehr sein muss als ein exportfähiges Gemenge aus Habsburgern, Opernball und Heurigenromantik."

Der dritte Mann

Tatsächlich ist der Wiener "Untergrund" den meisten Wienern unbekannt – von oben genannten Beispielen einmal abgesehen. Wer steigt schließlich schon hinunter in Keller und Katakomben, in U-Bahn-Schächte und Abwassersysteme oder zum berühmt-berüchtigten "Wiener Donaudüker" - einem 500 Meter langer Rohrtunnel direkt unterm Flussbett, in dem man trockenen Fußes von der Leopoldstadt nach Donaustadt spaziert, während das Wasser direkt über den Köpfen dahinrauscht.

Orson Wells als "Dritter Mann", der das Kanalnetz geschickt als Flucht- und Verbindungsweg benützt, ist dagegen auch heute noch omnipräsent – und sei es nur als Klischee. Wer allerdings den Spuren des Harry Lime folgt, wird enttäuscht sein: Der Gruselfaktor beruht vor allem auf raffinierten Filmschnitten, und auch die unscheinbare Litfaßsäule, durch die der Schwarzhändler ins Kanalnetz flüchten kann, existiert nur auf Zelluloid. Da erstaunt es nur mehr wenig zu hören, dass Orson Wells die Kanalwände vor den Dreharbeiten parfumieren ließ und in vielen Szenen von einem lokalen Fleischhauer, dem vor nichts grauste, "gedoubelt" worden sein soll. Der "Dritte Mann" – am Ende also doch ein echter Wiener?

Unterwelt im Untergrund

Die Kriminellen wussten die unterirdische Stadt jedenfalls schon früh als Rückzugsort zu nützen. Vor allem den organisierten Einbrecher­banden, die man in Wien mit fast respektvollem Unterton "Platten" nannte, boten die unzähligen Stollen, Gänge und Kammern geradezu idealen Unterschlupf. Die "Beer-Platte", "Kopetzky-Platte" oder wie auch immer die nach ihren Anführern benannten Trupps hießen, hatten leichtes Spiel dank vieler begehbarer Hauskanäle, leicht zu durchbrechender Mauer­werke und Kanaldeckel, deren Schlüssel man in einschlägigen Kreisen massenhaft duplizieren ließ. Erst durch das Abmauern und Verrohren vieler Hauskanäle wurde das erfolgreiche Betätigungsfeld der Wiener Ganoven weitestgehend eingedämmt. Geblieben sind Geschich­ten, Erinnerungen – und eine "Unterwelt" im wahrsten Sinne der doppelten Bedeutung.

Der Bauch von Wien

Doch wie sieht sie denn nun wirklich aus, die geheimnisvolle Welt unterhalb des Straßenniveaus? Da wären einmal die Katakomben und Grüfte – unter St. Stephan, beispielsweise, oder unter der Minoritenkirche. Faszinierend auch die sogenannte Virgil-Kapelle, ein unterirdischer Saalraum mit einem 13 m hohen Gewölbe, das erst 1973 im Zuge des U-Bahn-Baus entdeckt wurde. Die meisten Klöster und Stifte verfügen ebenfalls über Gewölbekeller, und von der Hofburg heißt es, dass sie unterirdisch noch viel weitläufiger angelegt sei als über der Erde. Ein hartnäckiges, wenn auch bis heute unbelegtes Gerücht rankt sich um einen Verbindungsgang zwischen Hofburg und Schönbrunn. Gefunden wurde dagegen der Medizinalweinkeller der alten Hofapotheke, in dem kostbare Medizinalweine und –liköre lagerten. Wahre Schätze findet man dagegen noch heute in den Katakomben des Weins – z.B. in den Stollen der Sektkellerei Schlumberger, im Schankraum des Esterhazykellers oder bei den Zwölf Aposteln, die mit drei Kellergeschoßen und einer riesigen Weinauswahl aufwarten können.

Unterirdische Infrastruktur

Weit weniger "süffig" ist Wiens unterirdische Infrastruktur: Bunkeranlagen, Schutzräume und jene technischen Einrichtungen von Wasser über Strom-, Gas- und Postleitungen bis zur Wärmeversorgung, die das funktionieren der "oberirdischen" Stadt erst möglich machen. Doch selbst hier finden sich spannende Aspekte, beispielsweise die Kundentresore großer Banken. Denn nach wie vor werden Geld und Wertgegenstände in den Tiefen der Erde gebunkert, und nahezu alle Bankhäuser folgen dieser Tradition. Womit einmal mehr bewiesen wäre, dass es sich durchaus lohnt, Wien von unten zu sehen.

Autor seit 13 Jahren
41 Seiten
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