Woher kommt "das Böse"?
Nachdem das Böse aus einem Zusammenspiel von individuellen und sozialen Faktoren entstanden ist, entwickelt es eine Tendenz zur Verselbständigung.Böses als konkretes Übel
Der Theologe und Religionsphilosoph Ingolf U. Dalferth versteht das Böse in dem weiten und offenen Sinn des lateinischen malum. Danach stört und zerstört das Böse Leben auf sinnlose und sinnwidrige Weise, und Böses wird stets konkret als Übel in einem bestimmten Leben erlebt, sei es das eigene Leben oder das anderer. Wo Böses erlebt wird, werden mit anderen Worten Übel erlebt, und wo Übel erlebt werden, wird etwas als Übel erfahren. Böses kommt also Dalferth zufolge immer als konkretes Übel zur Wirkung.
Ferner ist für Dalferth der Versuch, Böses zu verstehen, nie nur eine Beschäftigung mit Fakten, sondern ebenso mit deren Beurteilung, mit den Normen, nach denen geurteilt wird, und mit den verschiedenen Sichtweisen menschlichen Lebens, in denen unsere Normen und Kriterien der Unterscheidung zwischen Gut und Böse verankert sind. Dabei gehe es aber nicht nur darum, zu verstehen, was geschehen ist und warum es als Übel gesehen oder erlebt wird. Denn wenn etwas als Übel bewertet wird, dann heisse das gleichzeitig, dass es nicht sein sollte, sondern dass es zu vermeiden, zu korrigieren, zu beseitigen sei.
Dabei ist Dalferth zufolge aber auch darauf zu achten, dass ein Übel stets etwas ist, was für jemanden ein Übel ist, was auch bedeutet, dass die Sicht auf das Übel subjektiv ist. Das heisst auch: Was für den einen ein Übel ist, kann für einen anderen das Gegenteil, also ein Gut, sein. Aus diesen Überlegungen könnte man folgern, dass es, immer wenn etwas Böses geschieht, Verlierer, Leidtragende, gibt, während andere sogar vom Bösen profitieren können.
Böses als Abwendung vom Guten
Für den – inzwischen verstorbenen - ehemaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Karl Kardinal Lehmann ist davon auszugehen, dass das Böse untrennbar gekoppelt ist mit Freiheit und damit Zurechnung und Verantwortung, so dass dem Bösen eine Entscheidung freier Wesen für das Böse bzw. ihre willentliche Abwendung vom Guten zugrunde liegt. Für ein wirkliches Verständnis des Bösen genügt aber Lehmann zufolge diese Bestimmung des Ursprungs des Bösen in der Freiheit nicht. Vielmehr müsste die Wirklichkeit der Macht des Bösen im Zusammenhang einer Deutung der Gesamtwirklichkeit gefunden, also nach dem Stellenwert des Bösen im Ganzen der Wirklichkeit gefragt werden.
In diesem Zusammenhang sei von Philosophie und Theologie argumentiert worden, dass das Böse keinen eigenen ontologischen Status im Sinne eines substanziellen Seins habe, sondern vielmehr wie ein Parasit am Guten sei. Da aber – so Lehmann – alles, was ist, gut ist, insofern es ist, sei das Böse in sich widersprüchlich, weil es die Negation dessen ist, von dem es lebt. Insofern sei die willentliche Abwendung freier Wesen vom Guten eine selbstzerstörerische Tat. Indem also der Mensch im Wollen des Bösen sein Wesen vollzieht, begeht er Lehmann zufolge eine aktive Wesensverletzung und damit eine Art psychischen Selbstmord. Für Lehmann könnte man aber auch sagen, dass im Bösen zum Ausdruck komme, dass der Mensch seine Geschöpflichkeit und Existenz von Gottes Gnade missachtet und letztlich sein will wie Gott.
Noch drastischer heisst es bei Kardinal Walter Kasper, den Lehmann in diesem Zusammenhang zitiert: "…Im Tun des Bösen masst sich das Geschöpf an, die Möglichkeit, die Gott durch die Wirklichkeit der Schöpfung ausgeschlossen hat, zu entbinden, die Ordnung des Kosmos wieder aufzulösen und das Chaos zu entfesseln. Im Bösen gibt das Geschöpf den von Gott ausgeschlossenen Möglichkeiten eine Mächtigkeit. Das Böse ist die Macht des Nichtigen, des Chaotischen und Destruktiven in der Welt".
Das Böse als heterogenes, mehrdimensionales Phänomen
Weiteren Aufschluss über den Charakter des Bösen erhält man durch die Überlegungen des Philosophen Jean-Claude Wolf. Wolf geht bei seiner Analyse des Bösen davon aus, dass das Böse die ohne eine Spur von schlechtem Gewissen, ohne Unrechtsbewusstsein, ohne Bedauern und ohne Reue beabsichtigte oder in Kauf genommene, eventuell sogar vermeidbare Schädigung anderer ist.
Ferner ist für Wolf das Böse kein homogenes Phänomen. Es dürfe also nicht in einem einzigen bösen Faktor vereinheitlicht werden, weil dadurch seine verschiedenen Facetten vernachlässigt würden. So lassen sich seiner Meinung nach das Böse beispielsweise der Gier, des Stolzes und der Schadenfreude nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Es gebe keine tiefere "Einheit der Laster".
Wolf zufolge ist auch eine Reduktion des Bösen auf etwas anderes wie Irrtum, Dummheit oder Krankheit nicht plausibel, weil dadurch der Charakter sui generis des Bösen in Frage gestellt werde. Wolf betont hier ähnlich wie Lehmann den Aspekt der Verantwortung für das Böse, die sich aus unserer Handlungsfreiheit ergebe. Wäre das Böse nichts als Unwissenheit, Dummheit oder Krankheit, so wäre seiner Meinung nach die Beziehung des Bösen zur Freiheit permanent unterbrochen. Ähnliches gelte, wenn das Böse mit externen Faktoren wie Ressourcenknappheit, Armut oder Benachteiligung in Zusammenhang gebracht werde.
Wolf räumt ein, dass interne und externe Faktoren bei der Entstehung des Bösen eine Rolle spielen können, das Böse könne jedoch nicht ohne Bedeutungsverlust auf solche Faktoren reduziert werden. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf meinen Artikel "Ist der Mensch von Natur aus gut oder böse?" verweisen, in dem ich wichtige interne Faktoren bei der Entstehung des Bösen beschrieben habe.
Gibt es das "reine" Böse?
Die Auffassung, dass nur das "reine" Böse wirklich böse sei, d.h., die Bosheit verbunden mit der Absicht, andere zu schädigen, ohne Rücksicht auf die Folgen für den bösen Akteur selber, ist für Wolf eine weitere Vereinfachung. Denn diese "reine" Bosheit, die unter Umständen sogar dem bösen Akteur das Leben kostet und die Wolf deshalb als irrational und masochistisch bezeichnet, kommt seiner Meinung nach nur sehr selten vor.
In der Regel sei das "menschlich" Böse das "gemischte" Böse, insbesondere das mit dem Streben nach der eigenen Lust, nach Besitz, Macht und Überlegenheit verknüpfte Böse. Hier gehe es also um eine Verbesserung, nicht eine Opferung, des eigenen Lebens. Da diese Verbesserung aber auf Kosten anderer geschieht, ist Wolf zufolge das "gemischte" oder "menschlich" Böse in den Wirkungen auf seine Opfer nicht weniger verwerflich und hässlich als das "reine" Böse.
Dies zeigt sich seiner Meinung nach vor allem beim hartnäckig fortgesetzten Bösen, der Etablierung und Institutionalisierung des Bösen in Diktaturen und Straflagern. Hier bestehe das Böse insbesondere in Hass und Masslosigkeit und manifestiere sich in Exzessen der Gewalt. Daraus könnte meiner Meinung nach gefolgert werden, dass das Böse im Herzen der Menschen vor allem unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen seine verheerende Wirkung entfalten kann.
Der vergebliche Kampf gegen das Böse
Der Kampf gegen das Böse, die Vergeltung für böse Taten, kann Wolf zufolge ebenso schlimme Folgen haben wie das ursprüngliche Böse selbst. Hier gebe es nämlich den Impuls, das Böse durch Böses zu imitieren. Das heisst: Konsequente Vergeltung verstrickt sich Wolf zufolge in das "zweite Böse", die imitatio mali. Dieses "zweite Böse" manifestiert sich – so Wolf – in Hoffnungslosigkeit, bei der dass man das Böse als "unbelehrbar und "unheilbar" betrachtet und sich dadurch in eine ewige Gefangenschaft, in einen ewigen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt, begibt.
Mit dem Kampf gegen das aus der Vergangenheit geerbte und bereits existierende Böse ist also Wolf zufolge die permanente Versuchung verbunden, das Böse auch mit drastischen Mitteln zu bekämpfen. Der Heroismus im Krieg gegen das Böse mache mit anderen Worten moralisch blind für das Böse in den eigenen Reihen. Insofern bleibt für Wolff selbst legitime Verteidigung durch Gewalt ein heisses Eisen, eine aufgezwungene Notwehr oder Notstandsmassnahme.
Möglichkeiten zur Überwindung des Bösen
Der Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt könnte Wolf zufolge durchbrochen werden durch den Verzicht auf Vergeltung für das erlittene Böse, so dass eine Voraussetzung entstehe für Frieden und Vertrauen bis hin zu "Feindesliebe". Dabei räumt er ein, dass eine solche Strategie im Kampf gegen das Böse selten zu einem eindeutigen Sieg und oft zu eindeutigen Rückschlägen führt. Dennoch ist es für Wolf erforderlich, diesen Kampf niemals aufzugeben. Dabei ist für ihn Hoffnung ein Gegengift gegen Resignation und Verzweiflung angesichts der scheinbar unbezwingbaren Macht des Bösen. Und zwar handelt es sich hier – so Wolf - um eine Hoffnung, die dadurch legitimiert ist, dass sie im Verbund auftritt mit Tugenden wie Vertrauen und Liebe, Mut und Gerechtigkeitssinn, Beachtung der Gesetze und Kooperation mit der Ausrichtung auf gute und erstrebenswerte Ziele.
Eine solche durch andere Tugenden legitimierte Hoffnung kann Wolf zufolge dem Bösen die Macht der Einschüchterung und der vermeintlich unvermeidbaren Kollaboration mit dem Bösen nehmen. Entsprechend ist für Wolf die einzig legitime Hoffnung in Kriegen die Hoffnung auf ihre möglichst rasche Beendigung, nicht die Hoffnung auf Sieg, auf Vernichtung des Feindes, da eine solche Hoffnung selbst zu einer Quelle des Bösen und damit illegitim wird.
Schlussfolgerungen
Ich möchte zunächst festhalten, dass das Böse ein Phänomen sui generis darstellt, für das es offensichtlich zwei wesentliche Ursachen gibt, nämlich zum einen den Missbrauch der Handlungsfreiheit durch Menschen, die in ihrer Selbstherrlichkeit sein wollen wie Gott, und zum anderen "das zweite Böse", das aus Massnahmen resultiert, die zur Vergeltung für "das erste Böse" ergriffen worden sind, das Menschen widerfahren ist.
Was nun das sogenannte "zweite Böse" betrifft, das aus der Vergeltung für etwas Böses resultiert, das zuvor stattgefunden hat, so hat man es hier quasi mit einem automatischen Reflex zu tun, der zu einer Spirale von Gewalt und Gegengewalt führt, bei der sich jeder Beteiligte als unschuldiges Opfer fühlt, ohne jemals die wirklichen Beweggründe für das eigene Handeln oder für das Handeln des anderen zu hinterfragen. Das heisst: Schuld an der Eskalation des Bösen hat immer der andere. Dass man für diese Eskalation mitverantwortlich sein könnte, ist bei dieser Sichtweise undenkbar.
Der dadurch entstandene Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt kann deshalb nur durchbrochen werden, wenn es bei den Kontrahenten zu einem Innehalten kommt und zu einer Reflexion über die verfahrene Situation, die letztlich zu der Erkenntnis führt, dass auch der jeweilige Gegner legitime Interessen hat. Wenn dieses unterbleibt, kommt es meistens zu Katastrophen. Die sich gegenwärtig auf der Welt abspielenden Krisen und Kriege sind dafür das beste Beispiel.
Quellennachweis:
Ingolf U. Dalferth/Karl Lehmann/Navid Kermani, Das Böse, Verlag Herder 2011
Jean-Claude Wolf, Das Böse als ethische Kategorie, Universität Mainz 2014
Jean-Claude Wolf, Das Böse – alte und neue Gedanken, Bamberg Unesco-Welttag der Philosophie 2014
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