Die Liebe zum Leben als Fundament des Guten

In Anlehnung an den Psychoanalytiker Erich Fromm kann man die dem Menschen angeborene Neigung zum Guten beschreiben als Biophilie, also als die Tendenz, das Leben zu erhalten, als Liebe zum Leben und zu allem Lebendigen. Der Mensch ist mit anderen Worten von Natur aus seinen Mitmenschen zugewandt und versucht, Gutes zu tun, weil er das Leben liebt. Die Biophilie geht einher mit einer produktiven Orientierung als grundlegendes psychisches Orientierungsmuster. Dabei geht es um  Formen der Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse, die im Einklang stehen mit der Förderung von Mitmenschlichkeit. Diese Verbindung von Biophilie und produktiver Orientierung kann als Wachstumssyndrom umschrieben werden. Dabei ist davon auszugehen, dass sich der biophile Mensch  deshalb in dieser positiven Weise seinen Mitmenschen zuwenden kann, weil er auch sich selber liebt, weil er mit anderen Worten ein starkes Selbstwertgefühl besitzt.

Die emotionale Steuerung altruistischen Verhaltens

Mitmenschlichkeit/PixabayDie Vorstellung, dass der Mensch eine angeborene Neigung zur Mitmenschlichkeit besitzt, erhält Unterstützung durch neuere Erkenntnisse der Hirnphysiologie und der Evolutionsbiologie. Diese besagen nämlich, dass unter bestimmten Bedingungen altruistisches bzw. selbstloses Verhalten in hohem Maße emotional gesteuert wird und nur zu einem geringen Teil auf einer rationalen Interessenabwägung beruht. Das heißt: In Situationen, in denen der Mensch Gefahren für sich selbst und andere wahrnimmt, werden im menschlichen Gehirn rasch Emotionen und entsprechende Handlungen ausgelöst, während Denkprozesse viel langsamer ablaufen, so dass ein Mensch, der einem anderen Menschen zu  Hilfe eilt, quasi einem Automatismus folgt. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Vagusnerv. So haben verschiedene Untersuchungen gezeigt, dass eine starke Aktivität des Vagusnervs mit einem hohen Maß an Mitgefühl und Hilfsbereitschaft einhergeht.

Auflösung der Ich-Grenzen

Die Spontaneität der Hilfsbereitschaft deutet zudem daraufhin, dass die Grenzen des menschlichen Ich nicht so festgefügt sind, wie man bisher geglaubt hat, dass vielmehr in bedrohlichen Situationen, aber auch in Momenten freudiger Erregung, die Grenzen zwischen dem "Ich" und den "anderen" verschwimmen bis hin zu einer völligen Auflösung der Grenzen, so dass die Gefahr, die einem anderen droht, so erlebt wird, als wäre man selbst in Gefahr. Insgesamt machen diese Erkenntnisse deutlich, dass tief im menschlichen Gehirn der Trieb des Menschen zu selbstlosen Taten entsteht.

Der Unterschied zwischen dem guten Menschen und dem Gutmenschen

Eine deutliche, wenn auch eher "harmlose" Abweichung von der Neigung des Menschen zur Mitmenschlichkeit stellt der sogenannte Gutmensch dar. So stellt sich der gute Mensch in den Dienst des Nächsten und hilft selbstlos, während sich der Gutmensch in den Dienst der Menschheit stellt und sich feiern lässt. Das heißt: Der gute Mensch handelt im Dienste eines konkreten einzelnen Menschen und verbindet damit keine weiteren Absichten. Insbesondere fällt es ihm nicht ein, anderen ein schlechtes Gewissen zu machen. Dagegen möchte der Gutmensch vor allem Aufmerksamkeit erregen und sein Image als Wohltäter pflegen. Deshalb tritt er am liebsten als Retter der Menschheit auf und lässt gerne andere neben sich schlecht aussehen, damit er als Lichtgestalt und Heilsbringer umso heller strahlt. Das Auftreten des Gutmenschen als Wohltäter ist somit nur eine äußere Fassade, hinter der er verbirgt, dass es ihm in erster Linie um sein eigenes Wohl geht. Beim Gutmenschen ist mit anderen Worten das "Gutsein" nur vorgetäuscht.

Psychische Fundamente des Bösen

Die völlige Auslöschung der Neigung des Menschen zum Guten und seine Hinwendung zum Bösen ist – folgt man dem psychoanalytischen Ansatz Erich Fromms - auf frühkindliche Traumatisierungen zurückzuführen. Das heißt: Aufgrund von physischen und/oder psychischen Misshandlungen in der frühen Kindheit wird die Biophilie, die Liebe zum Leben, die der Neigung des Menschen zum Gutsein zugrundeliegt, verdrängt durch Nekrophilie, die Liebe zum Toten. An die Stelle des normalen tritt ein bösartiger Narzissmus, das Wachstumssyndrom entartet zum Verfallssyndrom. Das Verfallssyndrom ist in dieser Sichtweise die Basis der destruktiven Beziehungen des Nekrophilen zu seiner Umwelt und damit die Wurzel der bösartigsten Destruktivität und Unmenschlichkeit. Es ist sozusagen die Quintessenz alles Bösen.

Maligner Narzissmus und antisoziale Persönlichkeitsstörung

Die Überlegungen Fromms zur Psychopathologie des Bösen sind von der neueren Narzissmusforschung weitergeführt und konkretisiert worden. Und zwar werden hier zwei Formen des bösartigen Narzissmus voneinander unterschieden, nämlich der maligne Narzissmus und die antisoziale Persönlichkeitsstörung. Letztere ist identisch mit Psychopathie oder Soziopathie. Die Psychopathie als bösartige Entartung des pathologischen Narzissmus kann folglich genauer definiert werden als Persönlichkeitsstörung mit antisozialen Zügen.

Aggressivität und Sadismus

Bei beiden Formen des bösartigen Narzissmus ist der Größenwahn, der bei narzisstischen Persönlichkeitsstörungen ausgebildet wird, um die mit dieser psychischen Erkrankung einhergehende eklatante Schwäche des Selbstwertgefühls zu kompensieren, von Aggressionen durchdrungen. Bei den Betroffenen nimmt folglich dann das Selbstwertgefühl zu und die eigene Grandiosität wird bestätigt, wenn sie ihre Interessen durch aggressives Verhalten durchsetzen können. Hinzu kommt eine starke sadistische Komponente, Sadismus verstanden als Streben nach absoluter und uneingeschränkter Kontrolle und Herrschaft über andere. Damit verbunden ist eine extrem misstrauische Grundhaltung, also die Ausbildung paranoider Tendenzen bis hin zum Verfolgungswahn.

Die Skrupellosigkeit des Psychopathen

Gewalttätig/PixabayBeim malignen Narzissten sind jedoch noch Reste eines Über-Ich-Vorläufers zu finden, während bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung mit antisozialen Zügen selbst primitivste Über-Ich-Vorläufer verschwunden sind, so dass man hier von einer völligen Gewissenlosigkeit bzw. Skrupellosigkeit sprechen kann, die wiederum für die Gnadenlosigkeit der Betreffenden verantwortlich ist. Dabei erscheint die Tat eines Psychopathen umso böser, je höher der Planungsgrad ist, je mehr instrumentelle, also der Erreichung eines bestimmten Ziels dienende, Gewalt darin zum Einsatz kommt und je gravierender die Konsequenzen für das bzw. die Opfer sind.

Bösartiger Gruppennarzissmus

Die genannten Komponenten des Bösen können durch Gruppeneffekte und massenpsychologische Abläufe potenziert werden, so dass es zu einem bösartigen Gruppennarzissmus kommt. Und zwar beruht dieser auf der Beziehung einer Gruppe zu ihrem charismatischen Führer, bei der dessen Größenwahn auf die Gruppe übertragen wird, was mit Abgrenzung und Feindseligkeit gegenüber anderen Gruppierungen einhergeht. Die verheerenden Folgen einer solchen Verlagerung des bösartigen Narzissmus von der individuellen auf die soziale Ebene zeigen zahlreiche Beispiele aus dem Bereich der Politik, aber auch aus dem Bereich der organisierten Kriminalität.

Neurobiologische Grundlagen des Bösen

Neue Befunde der Hirnforschung legen den Schluss nahe, dass es neurobiologische Grundlagen aggressiven Verhaltens gibt, die zu einer antisozialen Persönlichkeitsstörung  führen können. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht hier die Hirnregion, die als Stirnhirn bezeichnet wird. Denn diese Hirnregion ist wesentlich beteiligt bei der Emotionsverarbeitung und damit bei impulsivem und aggressivem Verhalten. Das heißt: Störungen der Hirnfunktionen in diesem Bereich führen zu gravierenden Störungen der Impulskontrolle und damit auch zu massiven Störungen des Sozialverhaltens. Funktionsdefizite in anderen Hirnregionen, beispielsweise in den sogenannten Schläfenlappen, könnten eine organische Ursache dafür sein, warum Psychopathen weder Angst vor Strafe haben noch Mitgefühl mit ihren Opfern. Von besonderer Bedeutung könnten hier auch Defizite im zerebralen Netzwerk sogenannter Spiegelneuronen sein.

Zur Bedeutung der Spiegelneuronen

Spiegelneurone/PixabaySpiegelneuronen bewirken die Übertragung von Empfindungen wie Mitleid, Trauer oder Freude von Mensch zu Mensch. Sie ermöglichen damit, dass wir uns in andere "intuitiv einfühlen" können. Sie sind die neurobiologische Basis von Empathie, Sympathie, und sie verleihen uns die Fähigkeit zu lieben. Erst die Spiegelneuronen machen folglich den Menschen zu einem sozialen, mitfühlenden Wesen. Defizite bei der Verknüpfung von Spiegel-Neuronen haben deshalb einen grundlegenden Mangel an Intuition beziehungsweise Empathie zur Folge und damit die weitgehende Unfähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und für sie Sympathie zu empfinden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Fehlen positiver zwischenmenschlicher Emotionen und Bindungen, aber auch von Schuldgefühlen beim Psychopathen und damit seine "Unmenschlichkeit" auf solche Defizite zurückzuführen sind.

Die Ursachen von Hirnfunktionsstörungen

Was die Ursachen  neuronaler Funktionsdefizite betrifft, so könnte es sich dabei um angeborene Defekte handeln oder um Folgen einer Vergiftung, und zwar durch den Konsum von enthemmenden Substanzen oder durch die Ausschüttung von Stresshormonen anlässlich früherer seelischer Traumatisierungen. Eine wesentliche Rolle können hier aber auch die Botenstoffe spielen, die für die Kontaktaufnahme von Nervenzelle zu Nervenzelle verantwortlich sind, insbesondere das Serotonin. So ist ein Serotoninmangel in bestimmten Hirnregionen, insbesondere in der Stirnhirnregion, ursächlich an der Auslösung impulsiv-aggressiven Verhaltens beteiligt.

Fazit

Die Quintessenz dieses Artikels ist erfreulich: Der Mensch ist von Natur aus gut. Das haben die Forschungsergebnisse namhafter Experten aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen gezeigt. Es gibt allerdings auch eine schlechte Nachricht: Anscheinend ist es sehr einfach, den Menschen "vom Pfad der Tugend abzubringen", also durch negative Einflüsse verschiedenster Art seine Neigung zum Guten auszulöschen und durch eine Hinwendung zum Bösen zu ersetzen. Die einzige Hoffnung besteht hier darin, dass man diesen Einflüssen vielleicht noch rechtzeitig entgegenwirken kann.

Bildnachweis

Alle Bilder: Pixabay.com

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