Zur Erinnerung an den "Weltenretter" Stanislaw Petrow
1983 hat der damalige Diensthabende im Lagezentrum bei Moskau Stanislaw Petrow mit seiner Ignorierung eines Raketen-Alarms den Dritten Weltkrieg verhindert.Der Ablauf der Ereignisse von 1983
Am Abend des 25. September 1983 trat der damals 44 Jahre alte Petrow wie gewohnt seine zwölfstündige Schicht in der Raketenüberwachungszentrale an. Zufällig hatte er in dieser Nacht das Kommando. Alles verlief zunächst wie gewohnt, aber um 0:15 Uhr leuchtete plötzlich an der Wand des Überwachungsraums in großen rot blinkenden Buchstaben "Start" auf. Start bedeutete, dass eine amerikanische Interkontinentalrakete gezündet worden und in Richtung Sowjetunion unterwegs war. Petrow ließ zunächst das gesamte System überprüfen, aber es wurde kein technischer Fehler gefunden.
Dennoch war sich Petrow nicht sicher, weil die optische Bestätigung fehlte. Er hatte auch gelernt, dass ein nuklearer Angriff mit der Vernichtungskraft von Hunderten Raketen gleichzeitig erfolgen würde. Als er den Generalstab informierte, gab er deshalb durch: "Fehlalarm". Auch als die Computer in den nächsten Minuten den Start vier weiterer Flugkörper anzeigten, blieb er bei dieser Einschätzung. Hätte er sich geirrt, wären die ersten amerikanischen Atombomben bereits wenige Minuten später auf dem Gebiet der Sowjetunion detoniert. Erst nach 17 Minuten gaben die Bodenradare Entwarnung.
Bei einer Untersuchung stellte sich heraus, was die Ursache des Fehlalarms gewesen war. Und zwar hatte eine sehr seltene Konstellation der Sonne und eines Satelliten dazu geführt, dass Strahlen so von der Erdoberfläche in den Satelliten gespiegelt wurden, dass es wie der Start einer Rakete aussah, und das auch noch ausgerechnet über einer amerikanischen Militärbasis. Dieses Ereignis wurde auch so beschrieben, dass die Sensoren des Satelliten Kosmos-1382 Sonnenstrahlen, die von Wolken in der Nähe der amerikanischen Basis reflektiert wurden, als Energieentladungen, wie sie bei Raketenstarts erfolgen, gewertet hatten. Stanislaw Petrow selbst hielt so einen unwahrscheinlichen Zufall für geradezu teuflisch. In der damaligen Situation habe er auf sein Wissen und seine Intuition vertraut, und er wollte nicht schuld sein am Dritten Weltkrieg.
(Bild: geralt/pixabay.com)
Die damalige Weltlage
Dass Petrow eine wirklich große Tat vollbracht hat, wird deutlich, wenn man die damalige Weltlage mit in Betracht zieht. So war 1983 der "Kalte Krieg" auf einem neuen Höhepunkt. Die Sowjetunion hatte seit 1977 in der Ukraine und Weißrundland neue nukleare Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20 aufgestellt, und die Nato konterte mit dem Doppelbeschluss vom Dezember 1979, der beinhaltete, dass für den Fall, dass die Sowjets nicht in Verhandlungen dem Abbau der SS-20-Raketen zustimmen sollten, die Nato ihrerseits nukleare Pershing-II-Raketen und Marschflugkörper aufstellen würde. 1981 wurde Ronald Reagan Präsident der USA und verschärfte die Lage weiter, indem er im März 1983 seine berühmte "Star-Wars-Rede" hielt und das Abwehrsystem SDI ankündigte. Schließlich nannte er sogar die Sowjetunion ein "Reich des Bösen" nachdem in sowjetischem Luftraum eine südkoreanische Passagiermaschine abgeschossen worden war, die man versehentlich für ein Spionageflugzeug gehalten hatte.
1982 wurde zudem Juri Andropow, der als früherer Chef des sowjetischen Geheimdienstes KGB davon überzeugt war, dass die Amerikaner einen Erstschlag planten, Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU. Er hätte sicherlich, wenn er über den vermeintlichen Angriff informiert worden wäre, sich für einen Gegenangriff entschieden, also den "roten Knopf" gedrückt und damit einen tatsächlichen Nuklearschlag der Amerikaner provoziert. Es wäre eine Kettenreaktion in Gang gesetzt worden, in deren Folge rund 5000 Sprengköpfe über dichtbesiedelten Gebieten in Nordamerika, Europa und Asien niedergegangen wären. 1124 Städte, praktisch alle Zentren mit mehr als 100.000 Einwohnern, wären ausgelöscht worden.
Schätzungen zufolge wären weltweit 750 Millionen Menschen getötet und 340 Millionen verwundet worden. Petrow meinte später, die Welt könne froh sein, dass in dieser Nacht er und damit ein Wissenschaftler in Uniform das Kommando geführt habe, und kein dumpfer Militär. Denn ein Militär hätte wahrscheinlich anders entschieden: streng nach Vorschrift. Petrow vertraute dagegen seinem Gefühl, und er misstraute den Computern, weil er sie selbst entwickelt hatte und mögliche Schwachstellen kannte.
Das weitere Schicksal des Stanislaw Petrow
Dass wir alle noch leben, verdanken wir also Stanislaw Petrow. Aber wie ist es ihm nach den Ereignissen von 1983 ergangen? Zunächst wurde Petrow in der Sowjetunion ohne nähere Begründung für "Verdienste um das Vaterland in den Streitkräften" ausgezeichnet. Gleichzeitig bekam er einen Tadel, weil er vergessen hatte, seine Beobachtungen im Dienstbuch festzuhalten, während die Alarmsirenen schrillten.
Ferner unterlag das, was am 25. und 26. September 1983 passierte, zunächst der militärischen Geheimhaltung, und wurde erst mit zehnjähriger Verspätung, nach dem Untergang der Sowjetunion, publik, und zwar durch einen Beitrag in der Wochenzeitschrift "Sowertschenno Sekretno" ("Höchste Geheimstufe") und durch Äußerungen von Generaloberst Juri Wotinzew über die Geschehnisse in der "Prawda". Er war seinerzeit Petrows Vorgesetzter. Die Zeitschrift "Kommersant Wlast" griff die Geschichte 1998 nochmals auf, und schließlich berichtete in Deutschland "BILD" darüber.
Petrow selbst war früh in den Ruhestand gegangen und lebte verarmt und einsam in einem schäbigen Plattenbau in Frjasino, einem Vorort von Moskau. 1997 musste er zudem den Krebstod seiner Frau Raissa verkraften. Karl Schuhmacher, ein politischer Aktivist aus Deutschland, nahm, nachdem er den Bericht in der BILD-Zeitung gelesen hatte, Kontakt zu Stanislaw Petrow auf, besuchte ihn und lud ihn nach Deutschland ein, wo Petrow selbst in Interviews zu den Ereignissen im September 1983 Stellung nehmen konnte.
Es folgten weltweite Schlagzeilen, hinzu kamen etliche Auszeichnungen. So erhielt Petrow einige Jahre später in New York den World Citizen Award, 2012 den Deutschen Medienpreis sowie 2013 in der Semperoper den Dresdner Friedenspreis. Er wurde gefeiert als "The Man Who Saved the World" - so lautete auch 2014 der Titel eines preisgekrönten dänischen Dokumentarfilms. Petrow selbst fand diese "Heldenverehrung" übertrieben. Er betonte immer, er habe lediglich seine Arbeit gut gemacht.
Nach den Ehrungen, die er erfahren hatte, war Petrow wieder in Vergessenheit geraten. Das zeigt die Tatsache, dass sein Tod fast vier Monate unbekannt geblieben ist. Die Öffentlichkeit hat nur deshalb davon erfahren, weil Karl Schuhmacher ihm am 7.September telefonisch zum Geburtstag gratulieren wollte und dabei von seinem Sohn Dimitri erfuhr, dass der Vater schon am 19. Mai gestorben war.
Ein anderer Deutscher, der Kontakt zu Stanislaw Petrow aufgenommen hatte, nämlich der Konfliktforscher und Osteuropa-Experte Dr. Leo Ensel, hat in einem Nachruf auf Petrow folgende, nachdenkenswerte Fragen aufgeworfen, die ihm bereits zu Petrows Lebzeiten durch den Kopf gegangen waren: "Warum erhält dieser Mann nicht den Friedensnobelpreis?
Warum steht diese Geschichte nicht in den Lesebüchern aller Kinder dieser Welt? Als warnendes Beispiel dafür, wie weit es die Menschheit mit ihrem Wettrüsten bereits gebracht hatte. Und als ermutigendes Beispiel für menschlichen Mut und Zivilcourage" Man könnte noch den Untertitel eines von der Schriftstellerin Ingeborg Jacobs verfassten Buches über Stanislaw Petrow hinzufügen, der lautet: "Wer rettet uns das nächste Mal?"
(Bild: https://www.amazon.de/Stani...)
Schlussbemerkung
Ich habe selbst erlebt, wie Stanislaw Petrow in der Semperoper den Dresdner Friedenspreis bekommen hat. Ich sah einen kleinen, grauhaarigen, etwas schüchtern wirkenden Mann, der aber die Ereignisse von 1983 anschaulich zu schildern verstand. So sagte er zur Belustigung des Publikums, in den 17 Minuten, in denen er nicht wusste, ob er mit seiner Einschätzung des Raketenalarms recht oder unrecht hatte, sei ihm sein an sich sehr bequemer Bürostuhl vorgekommen wie eine heiße Ofenplatte. Dann habe sich seine Laune allerdings schlagartig verbessert.
Die Laudatio bei der Preisverleihung hielt der langjährige USA-Korrespondent und Moderator des ZDF-"heute journals" Claus Kleber. Zunächst wurden Bilder aus seinem Film "Die Bombe" gezeigt, durch die man Einblick erhielt in das "Alltagsleben" auf jenem amerikanischen Stützpunkt in Montana, von dem 1983 der vermeintliche Angriff ausgegangen war. Die Soldaten auf so einem Stützpunkt müssen – so Kleber – funktionieren wie Automaten. Petrow habe aber nicht gehandelt wie ein Automat, sondern habe sein persönliches Urteil über das eines Computers gestellt. Er habe mit Hirn, Herz, Mut und einem gehörigem Schuss russischer Volksweisheit gehandelt.
"Sie sind ein Mensch und Sie sind ein großer Mann", sagte Kleber direkt an Petrow gewandt. Vom Publikum in der ausverkauften Semperoper gab es "Standing Ovations", als Stanislaw Petrow die Ehrung in Empfang nahm.
Quellennachweis:
http://www.spiegel.de/einestages/vergessener-held-a-948852.html
http://russlandkontrovers.de/stanislaw-petrow-ein-nicht-friedensnobelpreistraeger/
Bildquelle:
kendoman26 / Flickr
(Der Mississippi-River - Die Lebensader der Vereinigten Staaten von ...)