Historische Aufführungspraxis - Der Begriff

In den vergangenen Jahrzehnten hat die sogenannte "historische Aufführungspraxis" für Alte Musik einen unvergleichlichen Siegeszug erlebt. Dabei ist der Begriff heute noch ebenso umstritten, wie die Art des Musizierens es zu Beginn dieser Entwicklung selbst war. "Historische Aufführungspraxis" meint, eine Praxis des Musizierens, die sich, nach neuesten Erkenntnissen, so nah wie möglich an der Musizierpraxis der Entstehungszeit der Werke orientiert. Das impliziert schon, dass die historische Aufführungspraxis inzwischen kein reines Phänomen der Interpretation von Barockmusik mehr ist, sondern bis zu Werken etwa von Brahms und Schumann reicht. (Wagner und Strauss allerdings hat sie noch nicht erreicht, - immerhin war die Uraufführungsinterpretin der Salome eine eher lyrische Sopranistin, während heute diese Partie meistens von gewaltigen dramatischen Sopranistinnen gesungen wird, aber das führt jetzt zu weit...)

 In der Umschreibung des Begriffes "historische Aufführungspraxis" gibt es allerdings eine Falle: Natürlich ist inzwischen die Quellenlage hervorragend und wir wissen sehr viel über Tempogestaltung, Vibrato, Verziehrungspraxis, Dynamik und Agogik vergangener Jahrhunderte. Aber wie es wirklich klang, können wir dennoch nicht wissen, da es keine Aufnahmen gibt. 

Die Fronten zwischen den Verfechtern der historischen Aufführungspraxis und der bis 1970/80 üblichen, die ich mal "traditionelle Aufführungspraxis" nennen möchte, sind inzwischen zum Glück nicht mehr so verhärtet, wie zu Beginn der Entwicklung und auch ich gehören zu jenen, die Interpretationen auf historischen Instrumenten, wenn sie gut sind, ebenso genießen können wie beispielsweise die Interpretationen David Oistrachs, die weit entfernt sind von der historischen Praxis, jedoch durch ihre unbestechliche Musikalität zeitlos gültig  scheinen.

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Die Instrumente

Ein wichtiges Augenmerk bei der historischen Aufführungspraxis gilt immer den Instrumenten.

Eine Barockgeige hat einen kürzeren Hals mit geringerer Neigung, daher weniger Spannung, wird mit einem anderen Bogen und Darmsaiten gespielt, d.h. sie klingt anders als etwa eine Violine aus dem späten 19. oder gar dem 20./21. Jahrhundert. Ähnlich verhält es sich bei allen Instrumenten, die sich in den vergangenen 4 Jahrhunderten verändert haben. (Für den Laien ist sicher die Ablösung des früheren Cembalo zunächst durch das Hammerklavier und später durch das heutige Pianoforte das augenfälligste Beispiel.) 


Das Missverständnis - alte Instrumente

Es gilt nun also als besonders gut und wertvoll, Barockmusik beispielsweise auf Streichinstrumenten der damaligen Zeit zu spielen. So richtig der Gedanke hinsichtlich der durch die Bauart anderen Klang- und Spielmöglichkeiten ist, basiert er doch auf einem eklatanten Missverständnis: Damals waren die Instrumente neu. Sicher, sie hatten eine etwas andere Bauart und wurden mit anderen Saiten gespielt, aber sie waren neu - und eine neue Geige klingt anders, als eine Geige, die seit Hunderten von Jahren gespielt, repariert, gespielt, repariert und wieder gespielt wurde. Nahezu alle alten Geigen haben reparierte Risse, einen neuen Stimmstock, oft auch einen neuen Bassbalken etc, was den Klang deutlich beeinflusst. Außerdem verändert sich der Klang von Geigen durchs Spielen (eine neue Geige z.B. muss auch erst einmal eingespielt werden). Alte Geigen klingen meistens weicher, wärmer, runder. Neue Geigen klingen etwas derber, holziger. Wenn man eine Neue Geige spielt, kann man selbst beobachten, wie sie sich über die Jahre verändert. Bachs Musik wurde nun eben auf damals ganz neuen Instrumenten gespielt, was also ein völlig anderes Klangbild ergibt als wenn man sie heute auf sehr alten Instrumenten spielt.

historisch und neu

Es ist mir ziemlich unbegreiflich, warum trotz dieser Tatsache nach wie vor das Spielen alter Musik auf alten Instrumenten derart nachhaltig als "historisch richtig" gilt.

Meiner Meinung nach wäre die historisch richtige Variante, auf neuen Nachbauten der historischen Instrumente zu musizieren. Somit hätte man die richtige Bauart und die Eigenheit des Klanges eines neuen Instrumentes. Natürlich ist das weniger spektakulär, als auf Jahrhunderte alten und dadurch sehr wertvollen Instrumenten, also quasi auf Antiquitäten zu spielen, und heute geht es ja bei Allem auch zum großen Teil um die Verkaufbarkeit.

Noch einmal: es gibt großartige, ja umwerfende Interpretationen auf historischen Instrumenten, ich möchte hier nicht falsch verstanden werden.

Aber ich halte es für an der Zeit, auf diesen kleinen Schönheitsfehler in einer Entwicklung, die zeitweise nahezu ideologische Züge bekommen hat und die Reproduktion und Rezeption Alter Musik deutlich dominiert, hinzuweisen.

 

© C. René Hirschfeld 

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