Alzheimer und Freitod. Rezension eines Schicksals
Demenz ist der Verlust geistiger Funktionen. In einem ergreifenden Bericht schildert Ruth Schäubli-Meyer das schubweise Verschwinden ihres Mannes in den Tod.Es ist ein bemerkenswerter Kniff, aus dem die Autorin, so darf vermutet werden, die Kraft zieht, einen sieben Jahre währenden Leidensweg zu schildern, der hinter ihr liegt: Sie gewinnt Abstand, indem sie in eine andere schlüpft, in Anna. Vielleicht erst dadurch ist es ihr möglich geworden, die lange Zeit erneut zu durchleben und sie aufzuschreiben: die Zeit von der Diagnose Alzheimer bis hin zum begleiteten Freitod 2005 mit Hilfe von Exit.
– Anzeige –
In ergeifenden Worten erzählt Anna vom Umgang mit der Erkrankung ihres Mannes an Alzheimer
Das Büchlein "Alzheimer. Wie will ich noch leben – wie sterben?" wirkt, hält man es das erste Mal in der Hand, wenig ernst zu nehmend, oder, wenn man es wohlwollend formulieren möchte: bescheiden. Schon wieder ein Betroffenheitsbericht!, denkt sich der Rezensent, und die Frage nach dem ‚Wofür?‘ steht im Raum. Die obere Hälfte des im DIN A5-Format gedruckten Titels nimmt ein spärlich blühender Rosenstrauch an einer nur zu erahnenden Hauswand ein; rechts deuten Graniplatten einen Gartenweg an. Auch die Rückseite ziert ein Foto. Und ein kurzer Text: "Dieser Bericht enthält die Gedanken und zeigt die Gefühle eines an Alzheimer erkrankten Mannes bis zu dessen Tod – teils von ihm selbst geschrieben und ergänzt mit den Erfahrungen seiner Frau."
Und plötzlich ändert sich der Eindruck: Das Buch beginnt, nach einem zu greifen. Ergriffen, nennt man das dann wohl. Es nimmt einen auf leise Art gefangen: Es ist klein und, ja, bescheiden, der mattlaminierte Pappband fühlt sich gut an, das Buch, es kann für eine kurze Lebensspanne zum Begleiter werden …
Alzheimer löst die Seele auf
Gustav also erfährt 1998 die Diagnose Alzheimer. Sein Leben, wie er es bis dato geführt hat, würde sich auflösen. Gustav weiß, was das bedeutet: Drei seiner Verwandte leben seit fünf und mehr Jahren in Pflegeheimen; nichts wird für sie unternommen, die Krankheit nicht erwähnt. Das kommt für Gustav nicht in Frage. "Ich muss mich wohl mit diesem ungebetenen Gast anfreunden, auch wenn es mir gar nicht passt", sagt er. Es darf angenommen werden, dass der Theologe auch ‚Freundschaft‘ meinte, wenn er ‚anfreunden‘ sagte – eine enorme Haltung, von seiner Frau drei Jahre nach dem Freitod ihres Mannes niedergeschrieben.
Ein sehr intimes Werk
Es ist ein bescheidenes Buch. Es ist freundlich, trotz seines schrecklichen Inhalts. Es ist luftig gesetzt, die Bedrängung durch den Inhalt findet keinen Spiegel im Layout. Hin und wieder tauchen Bilder auf: ein Foto über einen See hinweg mit streifig-pastellenen Sonnenstrahlen, ein Aquarell von Paul Klee ("Einst dem Grau der Nacht enttaucht") und schließlich das Foto von der Eiche in Herbstfarben hinterm Haus, die Gustav so geliebt hat. Es ist ein sehr persönliches Buch.
Freitod und Sterbebegleitung als willkommenes Ende der Krankheit Alzheimer
Irgendwann, nachdem Gustav sich angefreundet hat mit dem Lebensräuber Alzheimer, notiert er auf einem Zettel, den Anna nach seinem Tod findet wie so viele andere Zettel auch: "Einst lebte ich auf einem Erdteil, jetzt auf einem Archipel." Was für ein ungeheures Bild für das Empfinden, das die von der Krankheit getroffene Seele hier findet! "Die Inseln sind Teil eines einst untergegangenen zusammenhängenden großen Gebildes." (Anna ist Schweizerin, sie schreibt ‚gross‘, nicht ‚groß‘.) Und schließlich: "Die Insel löst sich auf." Gustav und Anna stellen sich der Frage nach dem Ende.
Gustav und Anna sind Mitglied bei Exit. Schon über 20 Jahre lang. Sie treffen sich zu einem Gespräch mit einem der Verantwortlichen. Der macht unmissverständlich klar: Der Betroffene darf nicht warten, bis die Krankheit vollends von ihm Besitz ergriffen hat, um dann, umnachtet, durch die Segnungen des todbringenden Cocktails dahinzuscheiden – nein, er muss sich zu diesem Schritt entschließen, solange der Verstand noch intakt ist! Eine schier unüberwindliche Hürde. Ein Sterbebegleiter von Exit, ein Pfarrer wie Gustav auch, wird zum Freund, ein Arzt bestätigt Gustavs Urteilsfähigkeit. Gustav fühlt sich erleichtert.
Alzheimer ist Sterben auf Raten – der Abschied naht
Die Familie wird eingeweiht, Anna hindert Gustav nicht an seinem Vorhaben. Sie wünscht sich eine noch mal ausgekostete Zeit mit dem Mann, den sie seit mehr als fünfzig Jahren begleitet hat. Aber es wird zugleich eine Zeit des Abschiednehmens.
Der Todestag ist bestimmt. Einige Wochen zuvor hat Gustav seine Anna gefragt, ob sie es herauszögern sollen, und Anna hat Angst bekommen. Angst vor dem erneuten Anlauf. Jetzt, mit der Gewissheit der Stunde, bekommt Gustav Angst. Sein Gott, das weiß er, ist an seinem Vorhaben nicht interessiert; sein Gott ist anders, viel größer. Gustavs Kreis ist geschlossen.
"Der Himmel war hell mit roten Streifen. Sie dachte: Morgenrot leuchtest mir zum frühen Tod. Er wollte, dass sie von dem Himmel ein Photo machte. Sie bat ihn, auch von ihm ein Photo machen zu dürfen. Das letzte …"
Bildquelle:
Karin Scherbart
(Asterix bei den Pikten – Rezension)