Neue Chancen für Nazis?

Am Ende des Zweiten Weltkriegs musste sich das nationalsozialistische Führungspersonal neue Lebensgrundlagen suchen. Es gab angesichts der unübersichtlichen Lage im Mai und Juni 1945 viele Gelegenheiten, unbestraft davonzukommen. Wenige Kriegsverbrecher wurden bei den Nürnberger Prozessen verurteilt und hingerichtet bzw. eingesperrt. Selbstmord haben Hitler, Goebbels und andere gemacht. Etwa zweitausend Nazi-Verbrechern gelang die Flucht nach Südamerika.
Wie viele Kriegsverbrecher es gab, kann man wegen fehlender Akten schwer schätzen. Man kann davon ausgehen, dass sich eine ansehnliche Zahl der Verantwortung entzogen hat. Viele Anhänger Hitlers retteten sich ohne Schaden in die Nachkriegsgesellschaft hinüber.

Organisation Gehlen - Als Beamte überleben

Nahtlos übernahm Generalmajor Reinhard Gehlen (1902-1979), Chef der "Abteilung Fremde Heere Ost im Generalstab des Heeres", nach dem Krieg Führungspositionen. Seine Abteilung spionierte die Sowjetunion aus. Er ließ Akten über die SU kopieren, vergrub sie kurz vor Kriegsende, um sie den Amerikanern gegen Freilassung anzubieten. Allen Dulles (1893 – 1969), einer der Gründungsväter der CIA, nahm ihn mit offenen Armen auf. Schon 1946 beförderte man ihn zum Chef der "Organisation Gehlen", die die Sowjetunion ausspionieren sollte. Mit ihm wechselten viele ehemalige Mitglieder von SS, SD und Gestapo zu den Amerikanern über. Ebenso spionierten gesuchte Kriegsverbrecher wie Klaus Barbie im amerikanischen Dienst gegen die Sowjetunion. Die CIA krutierte auch Krigesverbrecher, wenn es gegen die Kommunisten ging.

Mit gleicher Besetzung übernahm die Bundesrepublik Deutschland das Personal der "Organisation Gehlen" in den Bundesnachrichtendienst (1956). Selbst noch der Nachfolger von Gehlen, Gerhard Wessel (von 1968 bis 1978), stammte aus brauner Vergangenheit, wie etwa (geschätzte) 10 Prozent der Gesamtbelegschaft.

Viele "alte Kameraden" fanden im Beamtenstatus Unterschlupf. Für das Auswärtige Amt ist dies ausführlich dargestellt. Siehe: Eckart Conze u. a.: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München (Blessing Verlag) 2010.

Odessa - Kameradenhilfe

Simon Wiesenthal (1908-2005) hielt eine Organisation von Nationalsozialisten namens Odessa für die gelungene Flucht vieler Nazis verantwortlich. Dieser Geheimbund soll als Sammlungsbewegung der Nazis sogar das "Vierte Reich" angestrebt haben. Beweise für eine solche Geheimorganisation gibt es nicht. Es gab allerdings kleine Gruppen, die "Kameraden" unterstützten: die "Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte e. V." (gemeint sind damit Altnazis; ca. 100 Mitglieder, gegründet 1951; Hilfswerk für "kriegsverteilte" Nazis, in dem Gudrun Burwitz, die Tochter Himmlers, als graue Eminenz wirkte), der "Witikobund" (ca. 1000 Mitglieder, gegründet 1947, sudetendeutsche Gesinnungsgemeinschaft) und andere Klein- und Kleinstorganisationen. Auch südamerikanische Flüchtlinge beteiligten sich an der Kameradenhilfe.

Fluchtlinien - Vatikan und CIC

Beim Einmarsch der alliierten Streitkräfte versteckten sich Nazi-Größen oft in ländlichen Gegenden. Viele besonders Belastete flohen nach Südamerika. Dieser Transfer erfolgte ab 1946 beinahe problemlos. Fluchtwillige mussten heimlich den Brenner überqueren, um dann mit Unterstützung der katholischen Kirche und des Roten Kreuzes eine Schiffspassage nach Südamerika zu bekommen. Die Flüchtlinge wurden von Kloster zu Kloster weitergereicht und versteckt, bis die Papiere fertig waren. Eine kirchliche Stelle organisierte die sogenannte "Klosterlinie", auf der die Kriegsverbrecher der Gerechtigkeit entkamen. Zentralfigur dieser Beihilfe zur Flucht war der Bischof Dr. Alois Hudal. Fluchtwilligen Altnazis half er gerne mit der Begründung, dass Kommunistenfeinde wertvoll seien. Zu seinen "Kunden" gehörten Verbrecher wie Franz Stangl, (Kommandant von Treblinka), Adolf Eichmann (zentrale Leitstelle zur Organisierung der Endlösung) oder Josef Mengele (Selektionen und "medizinische" Versuche in Auschwitz).
Der Antikommunismus verband die Nazis mit kirchlichen Würdenträgern, mit westlichen (amerikanischen) Geheimdiensten und der Politik der westlichen Länder. Der Kalte Krieg verschonte nationalsozialistische Kriegsverbrecher vor Strafverfolgung.

Das CIC (Counter Intelligence Corps) etablierte einen eigenen Fluchtweg, die "Rattenlinie". Die Kriegsverbrecher, geschult im Kampf gegen Kommunisten, sollten "recycled" werden. Denn die Amerikaner wussten 1945 wenig über die Sowjetunion. Klaus Barbie, der Schlächter von Lyon, arbeitete für den CIC,und entkam auf der Rattenlinie nach Bolivien.

Otto Skorzeny, der Befreier des gefangenen Benito Mussolini, ordnete sich in die Reihen der Mitarbeiter des amerikanischen Geheimdienstes ein und pflegte enge Beziehung zur Organisation Gehlen. Im BND (Bundesnachrichtendienst) setzten sich Verhaltensweisen aus früheren Zeiten fort: Foltertraining, Söldnerdienste, Waffenhandel.1 Geradezu hofiert wurden die NS-Funktionseliten, die trotz ihrer verbrecherischen Taten während des Dritten Reichs auf alten Positionen eine zweite Chance bekamen.
1 Folgendes Buch bietet dazu viele überraschende Erkenntnisse: Feinstein, Andrew: Waffenhandel. Das globale Geschäft mit dem Tod, Hamburg (Hoffmann und Campe) 2012

In Südamerika - Willkommene Gäste

Willkommen waren die Großverbrecher in südamerikanischen Staaten: Chile, Bolivien, Argentinien. Geistesverwandtschaft und Bedarf an Fachleuten schufen die Voraussetzungen für einen freundlichen Empfang. Eichmann, Rudel und viele andere gründeten dort ihre Existenz und pflegten ihre nationalsozialistischen Träume.
Man unterstützte sich gegenseitig, schanzte sich Geschäfte zu, kam zu Wohlstand und mischte sich in die politische Szene in der Bundesrepublik ein. Der "Dürer-Kreis" träumte in der Zeitschrift "Der Weg" von einer "zweiten Machtergreifung". Einige versuchten, in der westdeutschen Parteienlandschaft Fuß zu fassen, mit mäßigem Erfolg. Als Hauptautoren schrieben der Flieger Hans Ulrich Rudel, Rudolf Heß, Alois Hudal u. a.

In diesen Büchern und Schriften wehrten sie jeden moralischen Vorwurf wegen der Kriegsverbrechen ab. Das wären Erfindungen, Übertreibungen, Lügen der Feinde Deutschlands. Mit dem Hass auf Fremde legitimierten sie Gewalt Gepflegte Bürgerlichkeit mit den Tugenden, Höflichkeit, Ordnung und Familiensinn erweckten den Anschein deutscher Biederkeit.

Das Schweigen - Ein bisschen Vergangenheitsbewältigung

Besonders im Öffentlichen Dienst der Bundesrepublik betätigten sich viele ehemalige Parteigenossen, da man glaubte, auf sie nicht verzichten zu können. Im Bundesinnenministerium waren von 1950 bis 1953 60 % der ernannten Abteilungsleiter in der NSDAP. Diese waren überwiegend sicher nicht (mehr) für rechte Parteien anfällig, aber Denk-, Fühl – und Verhaltensmuster aus der Hitlerzeit haben sie mitgebracht und damit ihre Entscheidungen getroffen.  Es gelang der bundesrepublikanischen Gesellschaft (wenigstens oberflächlich), einen großen Teil der früheren überzeugten Parteigenossen zu integrieren. Ein britischer Botschafter meinte (Ende der sechziger Jahre), dass viele ehemalige Nazis Führungsposten übernommen hätten, worin er aber keine Gefahr für die Demokratie sähe. Das prosperierende Wirtschaftsleben schien viele natiomalsozialistischeTendenzen aufgesogen zu haben.

Nach dem Prozess gegen Beteiligte an Massenmorden in Litauen (1958) begann eine Phase, in der das "Beschweigen" der Kriegsverbrechen von einer systematischen Strafverfolgung abgelöst wurde. Höhepunkte waren die Auschwitz-Prozesse (1963-1965; 1965/1966; 1967/1968). Man setzte sich aktiv mit der Vergangenheit auseinander, mit den Leiden der Deutschen wie ihrer Opfer. Als Gegenbewegung und um die zerstrittenen Teile der rechten Szene zu sammeln, wurde  1964 die NPD gegründet und zog in Landtage ein. Mit der rechten Szene forderte eine Anzahl Konservativer einen "Schlussstrich" in Bezug auf die Strafverfolgung alter Nazis. Viele fühlten sich mit diesem Thema überlastet und mieden eine Beschäftigung mit ihm. Von der rechten Seite wurde die Vergangenheitsbewältigung als Bewältigungs"industrie" diffamiert.

In der DDR - Antifaschismus

In der DDR fand die Vergangenheitsbewältigung durch den institutionalisierten Antifaschismus statt. Die Kommunisten definierten sich als Opfer, sodass sie die Schuldfrage nicht stellten. Ähnlich wie in Westdeutschland fand ein Integrationsprozess von Nationalsozialisten statt. Mit dem "Gesetz über den Erlass von Sühnemaßnahmen für ehemalige Anhänger der Nazipartei und Offiziere der Wehrmacht" vom November 1949 begann dort die Stabilisierung der Gesellschaft durch Integration der Altnazis. Die Entfernung von ehemaligen Nazis aus dem öffentlichen Dienst war strenger als in der Bundesrepublik. Trotzdem wurden wichtige Posten in der DDR mit ehemaligen Nazis bAntifa-Bewegung in dr DDresetzt, im geringeren Umfang als in der damaligen Bundesrepublik. Nicht nur die Amerikaner, auch die Sowjets kümmerten sich wenig um die verbrecherische Vergangenheit, wenn sie Nazis und Kriegsverbrecher zu ihrem Nutzen verwenden konnten.

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Antifa-Bewegung in der DDR

 

 

Die dritte Schuld - Das Vergnügen mit dem Grauen

Die erste Schuld der Deutschen waren die Kriegsverbrechen mit dem Holocaust. Die zweite Schuld bestand im Beschweigen und Verdrängen. Als dritte Schuld könnte man die Trivialisierung und Banalisierung der Geschehnisse in der Hitler-Zeit bezeichnen. Die Unterhaltungsindustrie bemächtigte sich des Sujets, um reißerisch Produkte anzubieten, die Kasse machten, weil sie das Gruselbedürfnis befriedigten. Hitler erschien als Komödienfigur auf der Bühne, kaspert heute als "Er ist wieder da" herum und füllt mit Filmen die Kassen Hollywoods. Selbst die Beschimpfung des politischen Gegners als "Nazi" zeigt den inflationären und instrumentalen Gebrauch der braunen Vergangenheit zu taktischen Zwecken beim Kampf um Macht.

Anderseits liegt eine umfangreiche wissenschaftliche Literatur vor, eine große Anzahl von Ausstellungen und Museen zeigen und zeigten pädagogisch ausgefeilt Objekte dieser Zeit, und für Schüler stehen methodisch geschickt aufbereitete Materialien bereit. Rational und wissenschaftlich ist der Komplex Nationalsozialismus gut aufgearbeitet. Trotzdem hebt die Hydra Rechtsradikalismus immer wieder ihre Köpfe. Der Kampf gegen sie ist noch nicht zu Ende.

Bilder

Vorschaubild: D-Day, http://pixabay.com/de/landung-landungsboot-normandie-60527/

Reinhard Gehlen: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1c/Bundesarchiv_Bild_183-27237-0001%2C_Reinhard_Gehlen.jpg

Simon Wiesenthal: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Simon_Wiesenthal.JPG?uselang=de

Hans Ulrich Rudel; http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d7/Special_Film_Project_186_-_Hans-Ulrich_Rudel.jpg

Antifa in DDR; http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/c4/Bundesarchiv_Bild_183-1990-0512-006%2C_Bernau%2C_Kongress_von_Antifa-Organisation_der_DDR.jpg; Thomas Lehmann

Mahnmal: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/30/Holocaust-mahnmal.jpg

(alle: 14.02.2013)

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