Berliner Ensemble: Kritik von "Caligula" - Albert Camus inszeniert von Nunes
Cäsar Caligula ist oberstes Gesetz – also sind alle anderen Gesetze gleichgültig. Die moralischen Regeln von gut und böse werden ein wenig ver-rückt.Der Menschgott als Hornochse: Constanze Becker (Bild: © Julian Roeder)
Ein Freiheitskämpfer des Bösen
Großartig: Constanze Becker. Man sagt es beinahe widerwillig, als sei eine Selbstverständlichkeit wiederholt. An ihr liegt es, den ganzen Abend zu meistern und sie schafft es. Hätten ihre Kolleg*innen nur halbwegs mehr Freiraum erhalten, wäre daraus ein großer Abend geworden. Doch es ist Nunes' vorgefasstes Konzept, den Unterschied zwischen einem uneingeschränkten Diktator und den hörigen bis extrem widerwilligen Untertanen zu markieren. Kaum denkbar, dass der bei der Niederschrift des Stückes 26-jährige Albert Camus Nietzsche gelesen hat. Der wollte die Werte umkehren und hielt moralische Zuschreibungen nur als Resultat der christlichen Wertsetzungen, denn ist nicht manchmal das sogenannte Böse das Gute, weil es niederreißt, erschafft, neue Welten aufrichtet? Leider ist Caligula auch das gleichgültig. Er handelt nach Tagesfasson, Willkür und Augenblicksgeschmack, ganz nach seinem Gusto. Morgen hat nichts mehr Gültigkeit, wenn er es will - ist nicht morgen das Gestern von übermorgen? Im Grunde ist Caligula ein Freiheitskämpfer des Bösen, der es aus seinen Fesseln erlöst. Um dem ganzen den Stachel zu nehmen, wird daraus ein nebelumdampftes Lichtgewitter mit abstrusen Geräuschkulissen. Es braust ein Ruf wie Donnerhall / Schwertgeklirr und Wogenprall. Es fließt viel Blut. Einer nach dem anderen wird hingerichtet, teilweise aus banalen Gründen. Man sehnt sich förmlich nach der bescheidenen aktuellen BRD-Wirklichkeit.
© Julian Roeder
Ich lebe immer noch, selbst nach meinem Tod
Constanze Becker, als Kind verkleidet, flötet "Ave Maria" und singt Marlene Dietrich: "Wenn ich mir was wünschen dürfte". Diese Song ist im Grunde ein Leitmotiv der gestrigen und gegenwärtigen Psychotherapeuten: Das unverhoffte Glück kommt einem unheimlich vor, man kennt es nicht, deshalb sehnt man sich nach der vertrauten Traurigkeit. Immerhin, Nunes will optisch anspruchsvoll unterhalten: Ein goldenes Kreuz wird aufgefahren, es hängt in der Luft und gleichzeitig am Abgrund, eine Frau ist daran gekettet, untermalt mit klassischer Musik, von der der historische Alleszermalmer, teilweise auf einem Instrument herumklimpernd, nur träumen konnte. Der Sklave Helicon (Aljoscha Stadelmann) will sein Dasein im Grunde mit etwas Höherem vertauschen, die Bürgerliche Annika Meier grimassiert in Fritsch-Manier, und die Quintessenz wird überdeutlich: Sind wir nicht alle Gefangene der popanzartigen Machthaber, die mitunter über Leichen gehen? Wie in einem Repressionsstaat wir das Meiste nur in Metaphern ausgespielt, als Show-Maskerade inszeniert, als müsse sich der Regisseur vor der Wahrheit verstecken. Constanze Becker muss den Laden durch ihre kraftvolle Bühnenpräsenz zusammenhalten, sie ist mal Berserker, mal Kind, das unbeholfen umhertapst, anziehend noch in körperlichen und gestischen Verrenkungen. Doch das ist zu wenig. Caligula, ein kurzes Leben lang auf herrische Selbstverwirklichung fixiert, sagt selbst noch nach seiner Hinrichtung durch ein widerspenstiges Mitglied seiner Gefolgschaft: "Ich lebe immer noch." Tatsächlich überdauern solche Menschen immer noch die Geschichte und sind allgegenwärtig.
Caligula
von Albert Camus
Aus dem Französischen von Uli Aumüller
Regie: Antú Romero Nunes, Bühne: Matthias Koch, Kostüme: Victoria Behr, Musik: Johannes Hofmann, Licht: Ulrich Eh, Dramaturgie: Sibylle Baschung.
Mit: Constanze Becker, Annika Meier, Oliver Kraushaar, Aljoscha Stadelmann, Drífa Hansen, Felix Rech, Patrick Güldenberg.
Berliner Ensemble, Premiere war am 21. September 2017, Kritik vom 1. Oktober 2017
Dauer: 90 Minuten
Bildquelle:
W. Zeckai
(Wie macht man eine Lesung erfolgreich?)