Stefanie Reinsperger (Grusche ...

Stefanie Reinsperger (Grusche Vachnadze), Carina Zichner (Panzerreiter) (Bild: Matthias Horn)

Eine Bäuerin schützt den Herrschaftsnachwuchs

Der in den frühen 90er-Jahren obsessive Drummer Thalheimer hat einen Live-Gitarristen engagiert, der wohl nie zum größten Musiker unter dem Mond aufsteigen wird. Immerhin, der nicht untalentierte Kai Brückner kapriziert sich auf Rock-Solos und erzeugt eine Atmosphäre der Spannung, die vom Regisseur fortwährend herausgenommen wird. Die Narration ist ohne Steigerung, sie ist kein Hinauslaufen auf einen Höhepunkt, es sei denn, die mit Kunstblut unspektakulär markierte Kreidekreis-Verhandlung stellt den Gipfel der dramatischen Handlung dar. Doch Thalheimer nimmt die Luft heraus, und das ganz bewusst. Brecht, die Glorifizierung des Sozialismus, Klassenkampf? Das wurde schon so oft besprochen, was geht es ihn an, schließlich hat er auch das Vorspiel – der Streit zweier sowjetischer Kolchosen um eine Talbewirtschaftung – ersatzlos gestrichen. Thalheimer ist viel zu sehr auf das Allzumenschliche und Ewigmenschliche fixiert. Und ins Zentrum rückt die wahre Mutterschaft, die Unterscheidung zwischen liebevoller Ziehmutter und kalter Blutmutter, die ihr verlorenes Kind nur aus Machterhaltungsgründen und wegen der Erbschaft braucht. Ganz stark: Stefanie Reinsperger als die Magd Grusche, behaftet mit anscheinend unbedarfter Bauernschlauheit und ungemein menschlicher Kraft, die für ihre Zuneigung bis ans Äußerste geht. Ihr Gegenpart ist die von Kroesinger bekannte Sina Martens, die Natella Abaschwili spielt, grandios zuweilen, aber mit zu viel exaltiertem Überredungscharme und ohne die nötige, für diese Figur unabdingbare Kälte.

 

Das Kind bedeutet Geld: Sina Martens als Natella Abaschwili

Foto: Matthias Horn

 

Liebevolle und bizarre Regungen des Herzens

Das Bühnenbild? Es existiert eigentlich gar nicht. Die auf Schlichtheit setzende Nele Balkhausen vertritt den monopolaussagekräftigen Olaf Altmann. Das gibt viel Freiraum für die Schauspieler*innen – und wie sie ihn nutzen! Da sind fulminante Bauernweiber- und männer, da ist Carina Zichner, etwas in Leder, als aggressive Panzerkreuzerin, da ist der halbnackte Simon (Nico Holonics) als alte Ansprüche geltend machender Verlobter von Grusche. Die Figuren werden scharf konturiert herauskristallisiert, es ist gelungenes Schauspielertheater – bis zum Eintreffen vom versoffenen Vabanque-Richter Azdak (Tilo Nest). Der, knapp vom Galgen gerettet und als Provisorium eingesetzt, erweist sich als lavierender Pokerspieler und Gefühlsentscheider. Leider inszeniert Thalheimer, der sich vielleicht an seinen farbenfrohen "Orestie"-Erfolg mit Constance Becker erinnert hat, diese überzeichnete Figur als blutgetränkten Kasper, der gar nicht für die Justiz taugt und seine Pseudo-Erwägungen zu einem rechtskräftigen Urteil gereifen lässt. Ein schmieriger Hampelmann könnte eine Aussage in Hinblick auf moralische Gerechtigkeit und aktuelle und vergangene Justizentscheidungen sein – aber Thalheimer blickt nur auf Abgründe und auf mitunter bizarre Regungen des Herzens. Insofern ist er ein Menschenanwalt, ein Existentialist wider Willen, der sich lieber mit Ontologie und Lebenspragmatik als Politologie und Historismus befasst. Eine Intention von Brecht hat der Regisseur jedenfalls erfüllt: Liebe geht vor Blut. In dieser Hinsicht – die Überwindung von antiquiertem Abstammungsdenken - ist diese zeitlose, auf virile haarige Fleischentblößung vertrauende Inszenierung brandaktuell. Es scheint, als habe Thalheimer nach der Selbstverpflanzung in die Schaubühne wieder zu seinen eigenen Wurzeln gefunden und alte Kräfte neu mobilisiert, wie auch Ingo Hülsmann, der in seiner Handlungsschilderung die richtigen Töne trifft. Trotz einigem Stückwerk kann man sagen: Ein vielversprechender Auftakt mit einer tollen Stefanie Reinsperger.

 

Der Kaukasische Kreidekreis
von Bertolt Brecht
Regie: Michael Thalheimer, Kostüme: Nele Balkhausen, Musik: Bert Wrede, Dramaturgie: Bernd Stegemann, Licht: Ulrich Eh.
Mit: Sina Martens, Stefanie Reinsperger, Ingo Hülsmann, Peter Luppa, Tilo Nest, Nico Holonics Sascha Nathan, Veit Schubert, Carina Zircher,.

Live-Musiker: Kai Brückner und Kalle Kalima.

Berliner Ensemble, Premiere vom 23. September 2017
Dauer: 110 Minuten, keine Pause

 

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