Hanna Jürgens, Carmen-Maja Antoni ...

Hanna Jürgens, Carmen-Maja Antoni, Joachim Nimtz, Luca Schaub, Anke Engelsmann (Bild: © Lucie Jansch)

Ein Ruck soll durch die Gesellschaft gehen

Zunächst sieht man den rundlich-kompakten Georgios Tsivanoglou als Semjon auf einem schlichten Metallbett sitzen. Hinzu kommen seine enervierte, zeternde Frau Maria (Hanna Jürgens) und die aufgescheuchte Carmen-Maja Antoni als Mutter, die mit ihren 70 Jahren wohl eine der letzten Ehrenrunden im Berliner Ensemble dreht. Der französische Regisseur Bellorini hat gemäß der Ausrichtung des Hauses keine Modernisierung vorgenommen: Es wird nicht mit Smartphones oder iPads hantiert, auch andere technische Innovationen, die das Stück ins Heute transportieren könnten, fehlen. Im Grunde kann man der Komödie eine gewisse Zeitlosigkeit attestieren, auch wenn die brachiale, repressive Stalin-Ära längst vorüber ist. Der Intelligenzler Aristarch (Veit Schubert) spricht das Leitmotiv aller aus: "In unseren Zeiten kann nur ein Toter aussprechen, was ein Lebender denkt." Aristarch erhofft sich durch die kühne Tat Semjons einen ungewöhnlichen Auftrieb für die Intellektuellen, die durch Konservierung und Forcierung des hohen Denkens eine bedeutendere Rolle in der Gesellschaft erobern könnten. Der Dichter Viktorowitsch (Martin Schneider) träumt hingegen von einer ungeahnten Aufwertung der schönen Künste, die den Alltag mit Poesie zu verzaubern vermögen. Schlichter hingegen denkt der Schießbudenpächter Kalabuschkin, dem Joachim Nimtz die grobe Visage eines fiesen Kleinkriminellen verleiht. Mit heruntergezogenen Mundwinkeln im Steinmeier-Stil spielt Michael Kinkel, der als Repräsentant der nach Umsatz gierenden Fleischindustrie auftritt.

 

Hanna Jürgens, Georgios Tsivanoglou

© Lucie Jansch

 

Der vermeintliche Märtyrer vergisst das Sterben

Ob Religion, Kommunismus oder Gastronomie: Alle sind sich darüber einig, dass man sich nicht wegen eines perfiden privates Grundes auslöscht, etwa Liebeskummer, Arbeitslosigkeit oder Depressionen, sondern einer Idee zum Sieg verhelfen muss. Nur die auf Liebe fixierte Kleopatra möchte Podsekalnikow aus rein egoistischen Motiven benutzen, und zwar, um einen Mann eifersüchtig zu machen und dessen Liebe ins Uferlose zu steigern. Annemarie Brüntjen, die offensichtlich den Sprung von der Theaterhochschülerin zum Ensemble geschafft hat, bringt ungewöhnlich viel Busen ins BE, als habe man auch an Erotomanen im Publikum gedacht. Entsprechend liebesgierig legt sie ihre auf kapriziöse Romantik bedachte Figur hin. Das Problem ist allerdings, dass Podsekalnikow sich beim Suizidversuch als tumb und unfähig erweist, gar nicht richtig sterben möchte und plötzlich das Leben zu schätzen und lieben beginnt. Zwei zwiespältige, kafkaeske Gestalten eines Bestattungsunternehmens tauchen auf, ein Sarg wird aufgestellt, in dem der besoffene Podsekalnikow auch vorübergehend schlummert, und ein Festbankett wird arrangiert: Doch der vermeintliche Märtyrer lebt quietschvergnügt weiter und glorifiziert insgeheim das vitale Leben. Es geht zuweilen grotesk zu, es ist recht amüsant und possierlich und von unbewölkter Frische. Aber wer die Komödie kennt, erwartet wohl, dass voll aufgedreht wird und derb-komische Einfälle kaskadenartig auf den amüsierwilligen Zuschauer hereinbrechen. Gewiss, Tsivanoglou hat durchaus ein enormes, von Bizarrerien gesättigtes humoristisches Potential und der Regisseur macht auch nichts Grundlegendes falsch: Leider fließt die Inszenierung in zu seichten Gewässern, denn hier hätte man sich ausnahmsweise mit klug eingefädelten Effekten ans Publikum ranwerfen können, um selbst "schwierige" Lacher herauszulocken.

Der Selbstmöder

von Nikolai Erdmann

Aus dem Russischen von Thomas Reschke

Inszenierung, Bühne, Musik: Jean Bellorini, Künstlerische Mitarbeit und Kostüme: Camille de la Guillonnière, Mitarbeit Kostüm: Wicke Naujoks, Dramaturgie: Dietmar Böck, Miriam Lüttgemann, Licht: Jean Bellorini, Ulrich Eh.

Mit: Georgios Tsivanoglou, Annemarie Brüntjen, Ursula Höpfner-Tabori, Anke Engelsmann, Joachim Nimtz, Hanna Jürgens, Carmen-Maja Antoni, Matthias Mosbach, Felix Tittel, Judith Stößenreuter, Michael Kinkel, Luca Schaub, Veit Schubert, Martin Schneider. Und: Timofey Sattarov (Akkordeon) und Philipp Kullen (Schlagzeug).

Berliner Ensemble

Premiere vom 17. Februar 2016

Dauer: 2 Stunden, keine Pause

 

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