Berliner Ensemble: Kritik von "Deutschstunde" – Regie: Philip Tiedemann
BE-Premiere. Christoph Hein hat den Roman von Siegfried Lenz für die Bühne bearbeitet. Ein Stück gegen Autoritätsgläubigkeit und für die Übernahme von Verantwortung.Winfried Peter Goos, Joachim Nimtz, Felix Strobel (Bild: © Marcus Lieberenz)
Plakative Gegenüberstellung zweier Gegensätze
Jepsens Sohn Siegfried (Peter Miklusz) sitzt anscheinend nachkriegsdomestiziert vorm Schreibtisch einer Besserungsanstalt und soll schreiben. An der Tafel steht das zu bearbeitende Thema: "Die Freuden der Pflicht" – er schreibt aber nicht. Stattdessen liest Miklusz ausgewählte Passagen aus dem Roman vor, ohne Schärfe, doch eindringlich. Die Schauspieler (Frauen sind nicht besetzt) hocken auf Stühlen mit dem Rücken zum Publikum, dann stehen sie auf und stellen sich dem unerbittlichen norddeutschen Dorfwind. Der wird durch Geklopfe dargestellt, eleganter: Percussion-Rhythmen, und die Schauspieler gestikulieren dermaßen übersteigert, dass man sich im Hyper-Boulevard wähnt und glaubt, die falsche Veranstaltung besucht zu haben. Ein Schreckenserlebnis, doch dann wird endlich gespielt, im temperierten, gestisch kalkulierten Modus, und das nicht schlecht. Joachim Nimtz spielt den ordnungshörigen Provinz-Cop mit außerordentlicher Willfährigkeit, egal, was das Gesetz gerade von ihm verlangt und die Zeit so hergibt. Biedere Entschlossenheit bis zum Äußersten. Hart und bleiern und lächelfrei ist Nimtz' wie eingegossenes Gesicht, es kontrastiert zur immer noch bewahrten Lebensfreude des nunmehr unterjochten Malers Nansen (Martin Seifert). Plakativer könnte die Gegenüberstellung von nationalsozialistischem Polizeiorgan und liberalem künstlerischem Freigeist kaum sein, doch die literarische Vorlage will es so. Beide können nicht anders – Jepsen muss Recht sprechen und Nansen muss malen, sogar absolut leere Bilder, die bestenfalls mit Phantasie aufgefüllt werden können. Äußere gegen innere Pflichterfüllung. Schade nur, dass Martin Seifert den angepeilten heiteren Ernst zu sehr in eine unbefangen-komische Spielweise übersetzt.
Peter Miklusz
© Marcus Lieberenz
Beginn der Demokratie – nichts wird gut
Die Bühne (Johannes Schütz) ist bis auf ein paar Requisiten weiß, spartanisch und kahl – das ist für die Inszenierung nicht von Nachteil. Ein Lob gebührt der Kostümbildnerin Margit Koppendorfer, die aus dem Hausfundus ungewöhnliche, teil bizarre teils typenspezifische Kombinationen zusammengestellt hat. Rein moralisch betrachtet ist der befehlssüchtige Polizist Jepsen ein Ekelpaket, das übrigens auch den desertierenden Sohn Klaas (Winfried Peter Goos) bei den machtwaltenden Nazis denunziert – rechnet man allerdings das Schauspielerische gegen die Person auf, so stellt sich beinahe unwillkürlich eine widerwillige Anziehung ein. Das Interessante an dieser Inszenierung ist nicht der schroffe weltanschauliche Dualismus im unterdrückungsfreundlichen, nordisch umwölkten 3. Reich, sondern die Tatsache, dass danach alles so weitergeht wie bisher. Die allianzbedingten Innovationen sind noch nicht an die Nordseeküste vorgedrungen. Jepsen verfolgt weiter den mittlerweile "befreiten" Maler, und auch der Sohn Siegfried (Siggi) beschützt gewissensgeleitet die Bilder des einst Verfemten, und zwar vor dem pflichtversessenen Vater, der noch auf den alten Befehl hört, weil noch kein neuer eingetroffen ist. Viele Juden, Linke und waschechte Demokraten wurden auch noch nach dem Einsetzen der Demokratie indirekt, quasi unter der Oberfläche verfolgt – von ihren ehemaligen Schergen, die sich längst - rein aus Pflicht - ein demokratisches Gewand übergestreift hatten. Hier hätte das Drama fortgeschrieben werden können. Bedauerlicherweise wird das nur halb ausgetragen, da der Regisseur Philip Tiedemann zu sehr dem Roman verpflichtet ist. Es ist eine Inszenierung geworden, die unterhaltsam aufklärt und theatralische Beschaulichkeit demonstriert, aber nicht sticht und beißt. Also kein Meisterwerk. Immerhin ein akzeptable Leistung.
Deutschstunde
von Siegfried Lenz
bearbeitet für die Bühne von Christop Hein
Regie: Philip Tiedemann, Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Margit Koppendorfer, Musik: Peer Neumann, Dramaturgie: Dietmar Böck, Licht: Ulrich Eh.
Es spielen: Peter Miklusz, Joachim Nimtz, Felix Strobel, Winfried Peter Goos, Martin Seifert, Jörg Thieme, Martin Schneider, Georgios Tsivanoglou, Stephan Schäfer, Uli Pleßmann, Peer Neumann.
Berliner Ensemble
BE-Premiere vom 9. Oktober 2015
Dauer: 1 Stunde, 25 Minuten
Bildquelle:
Ruth Weitz
(Lilli Chapeau und ihr kleinstes Theater der Welt in Miltenberg)