Martin Schneider, Marvin Schulze ...

Martin Schneider, Marvin Schulze, Georgios Tsivanoglou, Thomas Wittmann, Axel Werner, Stephan Schäfer (Bild: © Monika Rittershaus)

Menschenbraten im Urinkessel

Lieber eine theatrale Schau statt ein schauriges Theater, dachte sich wohl Regisseur Tiedemann. Deshalb hat er einige komödiantische Effekte im Aufgebot, die, eine Mischung aus Galgenhumor und Verzweiflungswitz, für Entspannung sorgen. Wegen geringfügiger Unterschlagung eines Nahrungsmittels wird ein beleibter, rundlich-gedrungener Mithäftling von der Knastmeute liquidiert. Was tun mit der Leiche? Na, essen, in der Not frisst der Teufel fliegen, schließlich hat man schon genug vom "Dreck" heruntergewürgt. Die wohlgenährte Leiche verspricht wenigstens knusprig-saftige Keulen, und so macht sich der Koch (Stephan Schäfer) daran, den gewürzlosen, wahrscheinlich zähen Braten in einem Urinkessel zuzubereiten. Das Verzehren eines Fußes scheint ja noch durchzugehen, auch die enthaarte Brust, aber als die Sträflinge vom Rücken hören, auf dem eine KZ-Nummer tätowiert ist, ergreift sie ein Schrecken. Das ist wie eine einverleibte Brandmarkung.

Delikatessen auf dem Friedhof

Im Vordergrund Ursula Höpfner-Tabori als Todesengel

© Monika Rittershaus

 

 

 

 

Jemand, der nur der Onkel (Martin Seifert) genannt wird, verliert auch unter diesen Umständen nicht seine Würde. Mit feinen weißen Handschuhen agierend, ist Eleganz selbst in der untersten Baracke ein programmatischer Selbstentwurf. Der Onkel ist ein Vertreter des damals verkümmerten, aber unauslöschlichen Humanismus, während der Medizinstudent Klaub (Sabin Tambrea) ums nackte Überleben ringt, egal, ob Gott zuhört oder nicht. Aufgrund seiner Rolle trägt Tambrea eine Brille, die ihm ein geradezu intellektuelles Erscheinungsbild verleiht. Die Häftlinge sprechen über leckere Gerichte, die ihren Fleischtöpfen vorenthalten werden, und ergehen sich in humorvollem Sarkasmus. Ja, auf den Friedhöfen liegen Delikatessen herum – aber wer möchte eine verweste Leiche essen?

 

Der gnadenlose Todesengel

Die letzten 20 Minuten tritt Ursula Höpfner-Tabori, die Witwe des verstorbenen Tabori, in Erscheinung. Sie spielt keine merry widow, sondern einen unerbittlichen Nazi-Schergen, eingehüllt in einen schweren schienbeinlangen Ledermantel. Ihr Gesichtsausdruck ist kriegerisch, infernalisch und unbarmherzig. Ihre Figur Schreckinger zwingt die KZ-Insassen dazu, das im Kessel brodelnde "Kraftfutter" zu sich zu nehmen. Die Alternative lautet Kannibalismus oder Duschraum. Unter diesem Zwang vergeht den Geschundenen jäh der Appetit – sie entscheiden sich für den Gastod und imitieren verbal die Gasgeräusche. Nur zwei, Heltai und Hirschler (Thomas Wittmann und Axel Werner) würgen die Giftbrühe herunter – und überleben dadurch. Philip Tiedemann, der mit einer schrägen Bühne mit Bänken, Stühlen einer Liege und dem Dampfkessel auskommt, verleiht dem Horror-Drama etwas Luftiges und Leichtes. Selbstverständlich sind die Schandtaten der Nationalsozialisten nicht vergessen. Aber aus besagten Gründen vermögen sie kein Entsetzen mehr auszulösen. So traurig das ob der dargestellten Abscheulichkeiten klingen mag: Es ist eine halbwegs ordentlich illustrierte Inszenierung herausgekommen.

Die Kannibalen

von George Tabori

Deutsch von Peter Sandberg

Regie und Bühne: Philip Tiedemann, Kostüme: Margit Koppendorfer, Musik: Henrik Kairies, Dramaturgie: Hermann Beil, Dietmar Böck, Licht: Ulrich Eh, Steffen Heinke.

Es spielen: Axel Werner, Thomas Wittmann, Martin Seifert, Sabin Tambrea, Georgis Tsivanoglou, Stephan Schäfer, Uli Pleßmann, Martin Schneider, Winfried Goos, Jonathan Kutzner, Marvin Schulze, Detlef Lutz, Ursula Höpfner-Tabori, Michael Kinkel.

Berliner Ensemble

Premiere am 28. März 2014, Kritik vom 31. März 2014

Dauer: 1 Stunde, 35 Minuten

Fotos: © Monika Rittershaus

 

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