Berliner Ensemble: Kritik von "Die Unschuldigen..." – Claus Peymann/Peter Handke
Berlin-Premiere. Eine einsame Person behauptet eine Landstraße gegen Fremde. Der Regisseur Peymann versucht, Handkes neues Stück mit Effekten theatertauglich zu machen.Im Vordergrund: Christopher Nell, Meret Becker (Bild: © Monika Rittershaus)
Sturm in der gedanklichen Ruhe
Christopher Nell spielt das Ich, das sich in zahlreichen Poetereien und Reflexionen verliert und manchmal nach dem exakten Begriff zu ringen scheint, um die Präzision beim Sprachgebrauch zu steigern. Die Bühne (Karl-Ernst Herrmann): Eine nach vorne abfallende Schräge mit den Wohnaccessoires, auf dem farblosen Boden einige Trash-Requisiten. Gern trägt Nell eine tief ins Gesicht geschobene Wollmütze ohne Bommel, und darunter sticht eine scharfe Nase geierartig hervor. Er ist ein belesener, polyglotter Feingeist, der trotz seiner Vorliebe für Literaturanspielungen auch das Blecherne und Dröhnende bevorzugt. Nell spielt ihn als einen wortmächtigen Gaukler, der sich zum einen selbst unterhalten möchte und desto lauter brüllt, je mehr man seine feinnervigen Gedanken überhört. Ein extrovertierter Einsamer, ein possenreißender Wanderprediger im Ruhestand, der die Nähe der anderen sucht, aber gleichzeitig vor ihr zurückschreckt. Seine selbstarrangierte heil'ge Welt muss schließlich verteidigt werden. Zu diesem Behuf und aus reiner Abwehrhaltung plustert er sich zu einem Wortmonster auf, das – ein altes Künstlerproblem – vita contemplativa in vita acitva verwandeln möchte, aber es nicht schafft. Die Kritik der Gegenwart, der eine verklärte Sehnsuchtsvergangenheit gegenübergestellt wird, ist gnadenlos: Stumpfe Alltagsrealität, Kapitalismus, egalitäre Gesellschaft, Reklame – und Konsumindustrie – alles kommt auf die Anklagebank. Und die entindividualisierten Unschuldigen, die wie ein zusammengeschmolzener Block zusammenstehen, betätigen auch noch fortwährend das Handy!
Christopher Nell
© Monika Rittershaus
Filmisches Erzählen
Eigentlich könnte man dieses "Drama" auch als szenische Lesung absolvieren, auf dass die Worte umso mehr glühen und im Innern vielleicht Assoziationsgewitter entstehen. Peymann hat das inwendige Werk ins Narrative überführt und das Ganze mit Effekten angereichert, speziell für die Schwerfälligen hinsichtlich Denkaktivität und Gedankenverknüpfung. Die Zuschauer hören Vogelgezwitscher für Ornithologiefreunde, dramatisierende Soundeinspielungen und krachende Geräusche, sie sehen Einbrüche der Naturgewalten, einen beinahe echten Sturm und aufwirbelnde, verbrannte Zettelnotizen. Nun, es ist ein filmisches Erzählen und teilweise überdeutlich, aber wer so etwas nicht mag, sollte sich viele Filme, vor allem ältere, gar nicht erst ansehen. Immerhin, die Peymann'sche Krafttheatralik macht das mehr fürs Lesen geeignete Innerlichkeitswerk wenigstens bühnentauglich und zugänglich.
Distanz aus Angst vor der Nähe
Trotzdem gibt es Langeweile. Darüber können auch einige inszenatorische Lichtblitze nicht hinwegtäuschen. Für etwas Schwung sorgen der mit einem Subkultur typischen Pferdeschwanz ausgestattete Martin Schwab und Maria Happel, die eine abstehende, Haarspray gestärkte Punkfrisur trägt und für verhaltenen Verve sorgt. Beim Ich-Protagonisten gibt es ernste Anzeichen von Konsenswilligkeit, auch als gesagt wird, dass an der Biegung einer Straße (wie poetisch) eine Katze in einen Ameisenhaufen getunkt wurde (weniger poetisch). Im Laufe der exaltierten Gespräche freut sich der Besitzergreifer eines Minimallandstrichs wie jemand, der eine neue Inspirationsquelle angezapft hat. Doch die Distanz bleibt. ‚Ich' hat sein Gefühlsdepot für die Unbekannte von der Landstraße aufgespart, es schwelt und brennt mit sensiblen Sensoren für eine Fremde, die da kommen und daherschweben wird, zu völlig neuen Ufern. Leider werden sie nicht zueinanderkommen, weil er sie in seinem Reflexionsfeuerwerk übersieht. Meret Becker, eher bekannt für prollige Rollen in diversen künstlerisch wertigen und minderwertigen Filmen, ist die einzige poetische Gestalt des Abends. Ganz in Schwarz gehüllt, ist sie es, die einen seelisch-geistigen Sehnsuchtsort verkörpert. Die blaue Blume der Romantik auf Abwegen, weil sie nicht erkannt wird. Es ist ein Abend fortwährender Nichterfüllung und unausgetragener Bedürfnisse, voll mit Tücken, schönem Licht und grellem Schatten auch.
Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße
Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten von Peter Handke
Regie: Claus Peymann, Bühne: Karl-Ernst Herrmann, Kostüme: Margit Koppendorfer, Dramaturgie: Jutta Ferbers und Anke Geidel, Licht: Karl-Ernst Herrmann und Friedrich Rom/ Ulrich Eh, Musikalische Mitarbeit: Moritz Eggert, Geräusche / Töne: David Müllner/Alexander Bramann.
Mit: Christopher Nell, Meret Becker, Krista Birkner, Maria Happel, Anatol Käbisch, Hermann Scheidleder, Martin Schwab, Felix Strobel, Fabian Stromberger, Jörg Thieme, Luca Schaub, Martin Schneider.
Berliner Ensemble
Berlin-Premiere vom 1. Mai 2016
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
Bildquelle:
Ruth Weitz
(Lilli Chapeau und ihr kleinstes Theater der Welt in Miltenberg)