Valery Tscheplanowa, Aljoscha ...

Valery Tscheplanowa, Aljoscha Stadelmann, Stefanie Reinsperger (Bild: © Matthias Horn)

Zwischen Weltklasse und Kreisklasse

 

Ohne Zweifel, ein großartige Szene. Leider kann der lange Rest damit nicht Schritt halten. Wer Castorf kennt, weiß, dass er Themen gern miteinander verschneidet, weil er glaubt, Botschaften verkünden zu müssen. Diesmal hat er sich ausgerechnet Kuba ausgesucht, und zwar das Kuba des neunzehnten und vor allem des zwanzigsten Jahrhunderts, wo der unterdrückungsfreundliche Batista wütete, schaltete und waltete, bis die revolutionäre Fidel-Che-Fraktion anrückte und die Macht ergriff. Gut, der spanische Kolonialismus, aber dabei fällt der Name Simon Bolivar überhaupt nicht. Offensichtlich hat der belesene Meister Castorf einige Gedächtnislücken, umso besser kennt er sich bei kraftvollen Revolutionen jeglicher Art aus. Selbstverständlich die französische Revolution, die Barrikadenkämpfe im Juni 1832 (nicht 1830 und 1848) und schließlich der Sturz Batistas. Was da an schauspielerischer Energie verpulvert wird! Es ist traurig, das niederschreiben zu müssen: Die großartige Reinsperger ist ein Reinfall. Sie redet viel zu schnell, verschnuddelt schöne Passagen des Poesie-Hochstaplers Castorf, der teilweise bizarre Metaphern gebraucht, sprachlich zwischen Weltklasse und Kreisklasse changiert. In der Tat, der Regisseur, mittlerweile ein Auftragskünstler, auch von Reeses Gnaden, ist ein heimlicher Poet, der sich selbst destruiert. Ihm ( und seinem Dramaturgen Frank Raddaz) gelingen partiell glänzende Formulierungen, die viel zu schnell und zu laut heruntergehaspelt werden. Angesichts des anvisierten hyper-dynamischen Turbo-Theaters konterkariert sich der nebenberufliche Textzerstörer selbst. Er macht es den Kritiker*innen leicht, aber Provokation ist ja Teil seiner Lebensphilosophie und eine Triebfeder seines Wirkens.

 

Sina Martens, Jürgen Holtz, Andreas ...

Sina Martens, Jürgen Holtz, Andreas Döhler (Bild: © Matthias Horn)

Thelma Buabeng

© Matthias Horn

 

 

 

 Wenig Bühnenaktivität, viel Video

Erotisch war es schon immer, doch nicht so busenoffensiv wie heute. Hinzu kommen scharfe Dolchabsätze, die man als Mordwaffe benutzen kann. Sina Martens und Valery Tscheplanowa machen ihre Sache recht gut, werden hochstilisiert ins Castorf-System und ersetzen in Kombination die hochgradige Sophie Rois. Die farbigen Darsteller*innen reagieren, und das ist sehr schade, wie in der literarisch klischeebeladenen Kolonialismuszeit. Wildheit, starke Sinnlichkeit, große rollende Augen und Aufbegehren gegen die gnadenlos herrschende Obrigkeit. Thelma Buabeng legt fortwährend dermaßen Druck in ihre Augen, dass einem angst und bange wird. Das Problem an der Aufführung ist: Der Livekino-Regisseur, meistens mit Kameras hinter der Bühne arbeitend, der ungewöhnlichen Geschmack an Glorifizierung und Selbstdemontage findet, will wieder einmal viel zu viele Geschichten auf einmal erzählen und kommt sich dabei selbst in die Quere. Was nützen gute Texte, wenn sie verschluckt oder heruntergebrüllt werden? Die optische und visuelle Überrumpelung gelingt nur phasenweise. Den Schauspieler*innen kann man keinen Vorwurf machen, sie absolvieren ihr Pensum. Ist es nicht wunderschön, dem Dialog zwischen Bürgermeister Döhler, übrigens der beste Berliner Proll-Schauspieler mit Niveau, und dem Inspektor (hervorragend: Wolfgang Michael) zuzuhören? Manche Szenen sind so schön, da könnte man vor Freude heulen. Andere Passagen sind so quälend langweilig, dass man imaginär die Protestfaust erhebt. Wenn Castorf nicht bald einen neuen Inszenierungsauftrag erhält, nimmt er den nächsten Kuba-Flugexpress.

 

Les Misérables

Nach Victor Hugo

Fassung Frank Castorf

Regie: Frank Castorf, Bühne: Alexandar Denić, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Dramaturgie: Frank Raddatz.

Es spielen: Sina Martens, Valery Tscheplanowa, Abdoul Kader Traoré, Jürgen Holtz, Andreas Döhler, Oliver Kraushaar, Stefanie Reinsperger, Thelam Buabeng, Wofgang Michael, Aljoscha Stadelmann, Rocco Mylord, Patrick Güldenberg.

Berliner Ensemble, Premiere vom 1. Dezember 2017

Dauer: 7 Stunden, 30 Minuten, eine Pause

 

 

 

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