Wahlsiegfeier im Brauhaus

Wahlsiegfeier im Brauhaus (Bild: © Barbara Braun)

Rassenwahn führt zur Entfremdung

Das Bühnenbild ist karg, der Medizinstudent Karlanner (Nicolai Despot) liegt auf einer einfachen Pritsche, daneben steht ein schlichter Hocker und an der Bühnenwand ist eine Tür markiert, die sich Felix Isenbügel, Marco Schmidt, Andy Klinger, Hannes Lindenblattnicht öffnen lässt. Hier hausen Karlanner und seine Partnerin Helene Marx (Marina Senckel), hier wird geredet und zerredet, geliebt und gestritten. Aber die Liebe ist schon brüchig, Karlanner findet allmählich Geschmack am rassistischen Gedankengut, forciert wird diese verhängnisvolle Infiltration durch die Manipulationen des Studienkollegen Tessow (Stephan Schäfer), der eine Art Kolloquium-Brille trägt und eher wie ein Feingeist aussieht. Die Entfremdung in der Beziehung vollzieht sich schrittweise, schließlich bezeichnet Karlanner ihr Judentum als eine "Position", die der eigenen diametral entgegengesetzt ist. Die Rassifizierung hat ihren Kulminationspunkt erreicht: Nunmehr stehen sich zwei Rassen gegenüber, die wegen ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen "Positionen" zwangsläufig eine völlig konträre Denkweise haben.

Eintauchen ins Wir-Gefühl

Karlanner zieht einen Schlussstrich, auch mit der Heterogenität, er möchte einer homogenen Gruppe mit spezifischen Lebensgewohnheiten angehören. In dem Maße, wie Karlanner zum reinen Arier wird, wird sich Helene ihres Judentums bewusst. Erst durch das Emporkommen eines kriegerischen Gegners wird sie zur "richtigen" Jüdin, die übrigens das Exil ablehnt und Zeugnis ablegen will von den Schandtaten des Faschismus deutscher Spielart. Karlanner suspendiert sich von seiner Individualität, wechselt das Hemd und damit seine Identität und versinkt vollständig in einem rauschhaften Wir-Gefühl, einer sinnentleerten Ideologie, die aufräumt mit dem "materialistischen Schutt". Die Armbinden nehmen zu und der Triumph der Märzwahlen wird im Brauhaus ausgiebig gefeiert, Studenten versammeln sich, darunter auch der Uni-Dekan, ein Professor und ein Oberstudienrat. Was hören wir? Es braust ein Ruf wie Donnerhall/Schwertgeklirr und Wogenprall, klar, "Die Wacht am Rhein". Der Oberstudienrat (Thomas Wittmann) fällt auf durch eine besonders intensive, freudentrunkene Hetzrede, die dem Geschwafel des Nazi-Karrieristen Rosloh (Andy Klinger) ähnelt.

Nicolai Despot und Marina Senckel

Nicolai Despot und Marina Senckel (Bild: © Barbara Braun)

Rückbesinnung auf den Humanismus

Rosloh, eigentlich ein Studium-Versager, hält seine Stunde für gekommen, steigt zum Hardcore-Nazi empor und hält Reden, die den Zuschauern das Gruseln beibringen. Bald erwächst er zum Gegner von Karlanner, denn der vollzieht eine überraschende Abkehr von der "Bewegung" und findet zur Moral, zu den humanistischen Werten zurück. Er gibt die Deutschen auf zugunsten einer moralisch geläuterten Liebe, die er reumütig wiederbelebt: "Sie haben uns nur von uns abgelenkt. Mich von dir und von mir". Die Rückkehr zum Humanismus wird aber teuer erkauft, jetzt hat er als Renegat die Deutschen als hartnäckige Gegner. Das Ablegen des falschen Gemeinschaftsgefühls, das alle anderen Gefühle verdrängte, die Rückgewinnung der Identität wird ihm zum Verhängnis. Als Mitläufer hätte er wenigstens als Ich-Entleerter weitervegetiert – aber was wäre solch ein Leben wert? Insgesamt ist das Drama eine interessante Studie über irregeleitete Parteigänger und den Verlust von Anstand und Moral. Gut, dass das Berliner Ensemble dieses Werk hervorgekramt hat. Vor allem die Hauptakteure Nicolai Despot und Marina Senckel ragen heraus. Am Ende üppiger Applaus.

Die Rassen

Von Ferdinand Bruckner

Regie, Bühnenbild, Kostüme: Manfred Karge, Musikalische Mitarbeit: Alfons Nowacki, Dramaturgie: Hermann Wündrich, Licht: Steffen Heinke.

Mit: Nicolai Despot, Marina Senckel, Stephan Schäfer, Winfried Goos, Andy Klinger, Martin Schneider, Marko Schmidt, Hannes Lindenblatt, Felix Isenbügel, Uli Pleßmann, Michael Kinkel, Detlef Lutz, Thomas Wittmann, Arda Dalci/Gustav Körner.

Berliner Ensemble

Premiere vom 11. November 2013

Dauer: ca. 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

Bildnachweis: © Barbara Braun

 

 

 

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