Bipolare Störungen heute und in der Zukunft
Bipolar affektive Störungen (manische Depression) - Wohin bewegen wir uns?Therapie und Diagnostik
Das Einsetzen von Medikamenten wie Lithium brachte wiederum neue Probleme für die Erkrankten mit sich, wobei es sich auf der einen Seite um die Nebenwirkungen wie eine Erhöhung des Blutdrucks und Konzentrationsstörungen handelt, die zum Teil unumgänglich sind, und auf der anderen Seite die Verweigerung der Patienten, ihre Medikamente einzunehmen, weil zudem ihre hypomanischen Phasen ausbleiben könnten, die sich unbestreitbar positiv auf sie auswirken sowie sie des weiterem ihrem Umfeld zu Gunsten kommen können.
Auch andere Arzneimittel, wie einige Antikonvulsiva, ziehen teilweise erhebliche gesundheitliche Konsequenzen nach sich, beispielsweise eine chronische Vermin-derung der Gedächtnisleistung oder ein drastisch erhöhtes Risiko, an Diabetes zu erkranken. Darum wird weiterhin an Lithium und anderen Medikamenten geforscht, wobei es sich um eine vielversprechende Investition handelt, da bei individueller Kombination der Medikation mit einer breiten Vielfalt an verschiedenen Therapie-formen, die heutzutage schon angeboten werden können, die Rate der Nebenwirkungen für jeden Patienten minimiert werden kann. Dadurch kann eine Bipolar-I-Störung sogar auf Vorteile einer kontrollierte Bipolar-II-Störung reduziert werden, das heißt die Produktivität hypomaner Phasen bleibt ohne verheerende Ausschwankung zu einer psychotischen Manie erhalten. Doch ohne die fortgeschrittenen Möglichkeiten der Behandlung würde dies ein viel zu hohes Rückfallrisiko bedeuten, ins-besondere da auch milderen depressiven Episoden das wiederkehrende Eintreten im Verlauf der Krankheit ermöglicht würde.
Einweisungen in psychiatrische Anstalten können bei zunehmend beschwerdefreier Therapie (mit denen auch die Patienten zufriedener sind und sich nicht dafür entscheiden, ihre Depressionen in Kauf zu nehmen, um nicht auf die Vorteile einer Hypomanie verzichten zu müssen) ebenfalls reduziert werden.
In der Vergangenheit wurde die bipolare Störung oft, jedoch immer seltener, fehldiagnostiziert. So noch heute, da sie zum Beispiel einige Symptome aufweist, die auch verschiedene Arten der Schizophrenie charakterisieren, oder durch Substanzmissbrauch (mit 60% der Patienten die häufigste Komorbidität) schwer zu identifizieren ist. Dies verlängert die Zeit, in der sich die Krankheit unbehandelt ausprägen kann, womit sie gleichauf weniger therapierbar wird. Diese Schwierigkeiten tauchen auch auf, wenn sich Erkrankte keine Hilfe suchen, da sie ihre "guten" Phasen oft nicht als krankhaft sondern als "am gesündesten" ansehen und wenn sie einen Arztbesuch unternehmen, dann grundsätzlich aufgrund von depressiven Episoden, wodurch nur eine unipolare Depression angenommen wird.
Heute besteht zudem das Problem, dass die bipolare Störung überdiagnostiziert wird und damit einhergehend wird sie ebenfalls übertherapiert. Das hängt mit den immer loser werdenden diagnostischen Kriterien zusammen, die eine Diagnose nicht ausreichend fundieren, vergleichbar mit dem oberflächlichen Verständnis von Manie und Melancholie im antiken Griechenland. Besonders bei Kindern (überwiegend in den USA) ist das zum Problem geworden, welches behoben werden muss. Allgemein anerkannt ist, dass erste Anzeichen einer manisch-depressiven Erkrankung bereits in der Adoleszenz erkennbar sind und viele Erkrankte wiesen schon im Jugendalter oder früher eine ADHS-ähnliche Symptomatik auf. Seit den frühen 90ern wird aber gleichauf über die Existenz der bipolar affektiven Störung in präpubertären Kindern spekuliert, für die von den klassischen Symptomen abweichende Merkmale charakteristisch sind, wie zum Beispiel mehrere, nicht phasenweise abzugrenzende Stimmungsumbrüche innerhalb eines Tages und destruktive Impulsdurchbrüche, deren Schweregrade nicht mit dem Entwicklungsstand des Kindes zu vereinbaren sind, was auch für ADHS typisch ist. Argumentiert wurde, dass dies eine Vorstufe der bipolaren Störung sei, die also mit denselben Medikamenten behandelt werden muss.
Das Problem liegt darin, dass bestimmt werden muss, wann die Ausprägung der Symptome drastisch genug ist, um medikamentös behandeln zu dürfen oder ab welchem Alter es angemessen ist, denn schon die Hyperaktivität eines Fötus im Uterus kann auf eine spätere Störung mit motorischer Unruhe hindeuten. Man sollte Kinder erst mit Arzneimitteln behandeln dürfen, wenn alle anderen Möglichkeiten der Therapie erfolglos blieben. Kritiker sehen den Aufschwung an Diagnosen für eine bipolare Störung in den letzten Jahren als "Epidemie" an, die sich außerdem in naher Zukunft darin äußern könnte, dass nicht nur ein erkrankter Patient Medikamente einnimmt, sondern gleich zehn weitere, die mit dem Risiko leben, die Krankheit auszuprägen, sodass auch die im Wesentlichen gesunden Menschen an den Nebenwirkungen leiden, die sie eigentlich nicht in Kauf nehmen müssten.
Die Technik auf molekularer Ebene kann nicht nur bis zum heutigen Zeitpunkt beste Grundlagen für die individuelle Therapie schaffen (Pharmakogenetik); Sie kann auch die Chance bieten, hauptsächlich durch Forschung an Genen und bildgebende Verfahren, genaue Diagnosen stellen zu können, basierend auf Genmutationen oder Veränderungen der Gehirnstrukturen und den kognitiven und neuronalen Mechanismen. Dabei können mehrere Einzelnachweise zusammengesetzt ein klares Bild ergeben, das weniger Möglichkeit zur Fehlinterpretation lässt. Diese spezifischen Methoden werden aber aus Kostengründen nur selten zur Erleichterung der Diagnose verwendet; Sie müssen für jeden Arzt verfügbar gemacht werden.
Problemfeld: Gentechnik
Durch die rasante Entwicklung und die Möglichkeiten, mit denen wir heute arbeiten können, geraten die Diskussionen um die bipolare Störung auch immer wieder in aktuelle Kontroversen, wie z. B. die Gentechnik. Die in Aussicht stehende Detektion der Gene, durch die eine Prädisposition gegeben ist, zieht einige berechtigte ethische Fragen nach sich, denen man auch in anderen Bereichen oft gegenüber stehen muss: Wenn pränatale Tests zur Klärung der Frage, ob ein Fötus die betroffenen Gene besitzt, angeboten werden können, ist der Wunsch nach Abtreibung in Betracht zu ziehen, obwohl nachgewiesen ist, dass nicht alle Träger der Gene zwingend erkranken (Zwillingsstudien), denn zusätzlich spielen auch noch andere äußere biologische und psychosoziale Faktoren bei der Expressivität und der Prognose der Krankheit eine Rolle, die so wenig absehbar wie die eventuelle Effektivität einer Therapie ist.
Eine weitaus tiefer greifende Frage der Humanität bringt die noch heute in einigen Ländern vorherrschende Situation um Sterilisationen mit sich, welche sich in demokratischen Ländern schon gelegt hat. Allerdings werden in einigen Provinzen Chinas genetisch Geisteskranke immer noch zwangssterilisiert.
Außerdem kann im Bezug auf den Zeitraum der Existenz der Krankheit ange-nommen werden, dass die spezifischen Gene bei der natürlichen Selektion vielleicht vorsätzlich behalten wurden, da sie auch Vorteile mit sich bringen (wie beispiels-weise das oft rauschähnliche Wohlbefinden in manischen und hypomanen Episoden). Das beweisen auch Merkmale anderer Krankheiten wie die Malaria-Resistenz bei der Sichel-Zellen-Anämie. Deshalb könne man nicht ohne weiteres von einem "Genfehler" ausgehen bzw. die bipolar affektive Störung auf diesen Begriff reduzieren. Es gibt hierfür allerdings keine ausreichenden wissenschaftlichen Beweise.
Die Pharmakogenetik beschäftigt sich mit der Wirkung und Verträglichkeit von Arzneimitteln unter dem Einfluss der Gene und kann so eine Art personalisierte Medizin bieten, die sich vor allem mit dem ein-prozentigen Anteil der DNA befasst, welcher individuell unterschiedlich ist. Sie erweckt zum einen die Hoffnung, dass Arzneimittel angemessener auf einen Patienten zugeschnitten werden können, andererseits ist die Datenmenge, die nicht nur das Genom, sondern auch die dadurch gesteuerten biochemischen Prozesse und die Korrelationen mit den verschiedensten äußeren Einflüssen umfasst, so immens, dass allerhöchstens in Einzelfällen wirklich auf optimalem Niveau geholfen werden kann. Es ist ebenfalls wahrscheinlich, dass, zumindest in naher Zukunft, immer noch mehr spekuliert wird, als dass klare Ergebnisse vorliegen werden. Sicher ist jedoch, dass genetische Gruppen innerhalb des bipolaren Spektrums besser voneinander abgegrenzt werden könnten und schon auf diesem Niveau eine sehr viel mehr Erfolg verheißende Behandlung ermöglicht.
Ein Nachteil der Pharmakogenetik ist für Kritiker die Kommerzialisierung des genetischen Materials von Spendern, da ihre biologische Identität "vermarktet" wird, indem sie auch andere Forschungseinrichtungen von molekularbiologischen Daten-banken abrufen können, woraus eine Art "Biokapitalismus" resultieren könnte.
Die meisten dieser Themen erfordern neue Gesetze und Regelungen, die auf internationaler Ebene anerkannt werden müssen, um die Chancen mit möglichst we-nigen negativen Konsequenzen optimal ausnutzen zu können. Das nächste Problem ist die Orientierung der großen pharmazeutischen Konzerne am Profit, die zu viel Freiraum hat und in eine Orientierung an dem Wohlergehen der Patienten umfunktio-niert werden sollte. Auch für die meisten anderen Probleme ist es schwer Lösungsansätze zu finden bzw. mit den bestehenden Programmen, gegen Zwangssterilisationen beispielsweise, große Fortschritte zu erzielen.
Auf kurze Sicht scheint die Pharmakogenetik eine der aussichtsreichsten Gebiete zu sein, wobei es aber nicht um einzelne Individuen gehen darf, sondern um die genetische Unterteilung der bipolaren Störung in Gruppen. Und es stellt sich im Hinblick auf die Möglichkeit der direkten Gentherapie weiterhin die Frage: Wollen wir, wenn wir die Möglichkeit dazu haben, eine Krankheit "auslöschen", indem wir die spezifischen Gene therapieren und manipulieren, die auch vorteilhaft sein können, insbesondere wenn Therapie-möglichkeiten bis zum Optimum verfeinert werden können? Sollten zum Beispiel die spezifischen Entscheidungen den betroffenen Familien bei der Familienplanung überlassen werden oder sollte es strikte gesetzliche Bestimmungen, die sich nach Humanität richten geben?
Kultur und Gesellschaft
Im Hinblick auf die Kultur stellt sich ebenfalls die Frage, ob die bipolare Störungen gänzlich behoben werden soll, da - wie einige Psychiater und Psychologen durch Biographien von Dichtern und Künstlern herausgearbeitet haben - kreative Individuen zu einem höheren Prozentanteil als andere Gruppen von einer bipolaren oder einer unipolar depressiven Störung betroffen sind. Die Werke manisch-depressiver Künstler könnten in naher Zukunft weniger Chancen haben überhaupt verwirklicht zu werden, wenn die Produktivität mit der Krankheit unterginge. Einige Künstler geben sogar an, die Erfahrungen ihrer depressiven Episoden seien essentiell für ihre Kunst, da sie diese als Kunst verarbeiten. Für die Allgemeinheit wird hierdurch oft das Vorurteil "Genie und Wahnsinn" gestärkt.
Aber nicht nur kreative Individuen sind häufiger betroffen, sondern auch andere erfolgreiche Persönlichkeiten, überwiegend aus der oberen Bevölkerungsschicht, durch die die begründete Vermutung angestellt werden kann, dass beispielsweise der aus einer Hypomanie resultierende Arbeitselan und das enthusiastische Engagement, welche meistens Symptome der bipolar affektiven Störung sind, der Gesell-schaft und der Kultur einen großen Vorteil erbringen können (auch wenn Patienten auf längere Sicht sehr viel Produktivität wiederum an Depressionen, Manien oder Rückfälle nach Absetzen von Medikamenten, was immer noch häufig vorkommt, verlieren). Kritisch ist es wiederum, wenn dies zu positiv dargestellt wird.
Ein großes gesellschaftliches Problem ist, dass in der Mentalität vieler nicht ausreichend Informierter ein "Stereotyp des Wahnsinns" verankert ist, den sie entweder umgangssprachlich mit manischer Depression oder mit Schizophrenie verbinden. Auch die Medien, zum Beispiel Kriminalserien, zeigen diese Erkrankungen oft nur in äußersten Psychosen, die sozusagen als Pars pro toto fungieren.
Menschen mit einer bipolaren Störung werden oft von der Gesellschaft ausge-schlossen, weil sie im Schatten dieser Bilder stehen und die Öffentlichkeit der Ansicht ist, man treffe die an bipolaren Störungen Leidenden nur in den Gängen geschlossener Anstalten an, weil sie nicht imstande seien ein normales Leben zu führen oder eine Gefahr für die Gesellschaft darstellten. Das rührt hauptsächlich daher, dass vor allem Manien als äußerster Wahnsinn, von psychotischer Natur und vollkommenem Realitätsverlust repräsentiert wird, und die bipolare Störung im Allgemeinen als ein Leben in zwei radikalen Extremen bekannt ist. Fakt ist jedoch, dass die Krankheit oft auch über lange Zeit symptomfrei sein kann und Patienten in diesem Zustand nicht von mental Gesunden unterschieden werden können. Zudem werden im Hinblick auf die variable Expressivität die meisten Erkrankten nie psychotisch.
Mittlerweile ist trotz der Erkrankung an einer bipolaren Störung durch die Medikation ein professionelles Leben möglich. Das Bewusstsein und das Verständnis der Öffentlichkeit sollte trotzdem erweitert werden, was parallel zu der radikalen Repräsentation ebenfalls durch Medien bereits geschieht, wie zum Beispiel in Interviews mit Erkrankten, darunter auch Berühmtheiten, die sich zu ihrer Diagnose äußern. Allerdings muss auch das vorsichtig angegangen werden, damit ein realistisches Bild der Störung repräsentiert wird. Dadurch gelangt schon sehr viel Information über die bipolar affektive Störung an die Gesellschaft. Dies erhöht die Alarmbereitschaft der Öffentlichkeit: Symptome können vielleicht früher wahr-genommen werden, so können Suizid- und Konfliktsrisiko minimiert und - ebenso wichtig - ein besseres Verständnis geschafft werden.
Fazit
Wenn heute schon Kleinkinder mit einem Cocktail an Medikamenten gegen eine mögliche bipolar affektive Störung behandelt werden, wird mit Gewichtung auf die Prävention argumentiert, denn je früher man mit der präventiven Behandlung beginnt, desto effektiver sollte sie sein. Das heißt: desto geringer fallen die negativen Konsequenzen der Krankheit im Lebenslauf aus. Es muss allerdings vermieden werden, mit diesen Medikamenten, die von der FDA nicht einmal zur Behandlung von Kindern registriert wurden, in dieser Menge derartig unvorsichtig umzugehen. Vorher sollten andere mögliche, weniger risikoreiche Formen der Therapie angewandt werden. Besonders dieses Beispiel legt nahe, dass die bipolar affektive Störung zwingend weiter erforscht werden muss.
Eine vollständige "Heilung" geht vielleicht aber sogar zu weit, bedenkt man die Vorteile, wenn effektive nebenwirkungsfreie Medikamente erhältlich sind, durch die vor allem Produktivität erhalten bleiben kann. Allerdings darf diese qualvolle und oft tödliche Krankheit auf keinen Fall "romantisiert" werden, indem man sie zum Beispiel einfach nur als intensivere Lebensweise ansieht, wie es durch den Ansatz, dass die bipolar affektive Störung eng mit Kreativität zusammenhängt, im Allgemeinen vermittelt werden könnte.
Weitere Erkenntnisse der Genetik sind auf jeden Fall von enormer Wichtigkeit, da die verschiedenen Krankheiten eines bipolaren Spektrums genau benannt und erforscht werden müssen. Ein weiterer Hauptgrund dafür ist, dass Kritiker begründet in Frage stellen, inwiefern die Symptome welchen Grades eine "unauffälligere" Erscheinungsform, deren Existenz umstritten wird, definieren können. Die übertriebene Darstellung von "Symptomen" muss also ebenfalls eingedämmt werden (wenn sie nicht biologisch hinterlegt werden kann), damit sich diese Art der Überdiagnose nicht mehr zuträgt. Dr. Paul McHugh beschrieb diese allgemeine Situation der immer weiter expandierenden diagnostischen Kriterien und der als "erfunden" angezweifelten neu differenzierten Krankheiten mit den Worten: "Ziemlich bald werden wir auch ein Syndrom haben, das kleine fette irische Kerle mit Bostoner Akzent beschreibt, und ich bin geisteskrank."
Mit größter Sicherheit ist zu den weiteren im letzten Kapitel angesprochenen Problemfeldern keine einfache Antwort erhältlich. Sie werden sich wie die Probleme selbst mit den Möglichkeiten und den Ideen der kommenden Jahre herauskristallisieren, natürlich aber nicht von allein. Daher ist schon das Bewusstsein um diese Situation und die Konfliktbereiche bzw. das frühzeitige Erkennen der Probleme ein guter Anfang. Nach Dr. James Watson, dem Mitentdecker der Struktur der DNA und der erste Leiter des Human Genom Project, müssen umfangreiche ethische Diskussionen geführt, die Fehler der vorhergegangen Geschichte vermieden und ebenfalls neue Gesetze erlassen werden.