Drohendes politisches Ungewitter

Drohendes politisches Ungewitter (Bild: FelixMittermeier/pixabay.com)

Die Mobilisierung bestimmter Wählerschichten durch die AfD

Zunächst soll gezeigt werden, welche gesellschaftlichen Gruppen die AfD für sich gewinnen konnte. Aufschluss darüber geben die Ergebnisse einer Studie der Bertelsmann Stiftung, die erstmals das Wahlverhalten der sozialen Milieus bei einer Bundestagswahl analysiert hat, so wie sie vom Sinus-Institut beschrieben werden. Danach erreichte die AfD im Milieu der bürgerlichen Mitte 20 Prozent aller Wählerstimmen. Das war ein Zuwachs gegenüber 2013 um 14,6 Prozentpunkte. Und zwar ging dieser Wählerzuwachs bei der AfD im Milieu der bürgerlichen Mitte vor allem zu Lasten der CDU/CSU. Das heißt: Die CDU/CSU hat hier den höchsten Verlust aller Parteien in einem Einzelmilieu erlitten (-15 Prozentpunkte).

Gleichzeitig hat die AfD im Milieu der sozialen Unterschicht, also im sogenannten prekären Milieu, wo es traditionell besonders viele Nichtwähler gibt, ihr stärkstes Ergebnis in Höhe von 28 Prozent aller Wählerstimmen erzielt, während die etablierten Parteien im prekären Milieu kaum noch Wähler für sich gewinnen konnten. Ein positiver Nebeneffekt dieser Wählermobilisierung zu Gunsten der AfD war, dass die soziale Spaltung der Wahlbeteiligung spürbar gesunken ist. Das heißt: Die soziale Spaltung der Wahlbeteiligung beschreibt, wie stark die Wahlbeteiligung vom sozialen Profil eines Stimmbezirks abhängt. Ist die Wahlbeteiligung in wirtschaftlich und sozial starken Wohnvierteln sehr hoch und gleichzeitig in wirtschaftlich und sozial schwachen Vierteln sehr niedrig, ist dies Ausdruck einer hohen sozialen Spaltung der Wahlbeteiligung.

Indem die AfD viele Angehörige des prekären Milieus dazu bewegen konnte, ihr ihre Stimme zu geben, ist also die soziale Spaltung der Wahlbeteiligung bei der diesjährigen Bundestagswahl stark zurückgegangen. Eine ähnliche Entwicklung konnte zuletzt 1998 beim Wahlsieg der SPD beobachtet werden. Die Studie der Bertelsmann-Stiftung kommt hier zu dem Schluss, dass sich das Wahlverhalten nicht mehr an einem klassischen Rechts-links-Schema orientiert, sondern dass dabei sozio-ökonomische Milieus eine wichtige Rolle spielen. Und zwar geht es hier um die Unterteilung der Wähler nach sozialer Lage, Werthaltungen, Lebensstilen und Grundorientierungen.

Weitere wichtige Unterschiede beim Wahlverhalten

Da die "AfD-freundlichen" Milieus der bürgerlichen Mitte und der sozial Prekären in Ostdeutschland stark überrepräsentiert sind, ist die AfD bei der Bundestagswahl in Ostdeutschland mit 21,5 Prozent der Wählerstimmen sogar zur zweitstärksten politischen Kraft hinter der CDU geworden. In Sachsen konnte die AfD die CDU sogar ganz knapp überholen. Und zwar gingen die Erfolge der AfD in Ostdeutschland vor allem zu Lasten der Linkspartei, die auf Platz 3 abgerutscht ist.

Auch die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Wahl der AfD sind bemerkenswert, wobei sich wiederum der Osten vom Westen unterscheidet. So haben die ostdeutschen Männer sogar mehrheitlich AfD gewählt. Das heißt: 26 Prozent der ostdeutschen Männer machten ihr Kreuz bei der AfD, bei den Frauen waren es 17 Prozent. Demgegenüber wählten im Westen 13 Prozent der Männer und 8 Prozent der Frauen die AfD. Ein weiterer wichtiger Faktor ist auch das Alter. So konnte die AfD weder bei den jüngeren noch bei den älteren Wählern sonderlich punkten. Vor allem Deutsche mittleren Alters, also Personen zwischen 30 und 59 Jahren, gaben der AfD ihre Stimme. Ferner wählten 14 und 17 Prozent der Menschen mit Hauptschulabschluss oder mittlerer Reife die AfD, darunter viele Arbeiter und Arbeitslose – die ja überwiegend dem prekären Milieu angehören. Bei den Hochschulabsolventen waren es nur sieben Prozent.

Die Modernisierungsskepsis der AfD-Wähler

Das entscheidende Charakteristikum der Milieus, in denen die AfD zahlreiche Wähler für sich gewinnen konnte, ist - so die Studie der Bertelsmann-Stiftung – die Skepsis, wenn nicht sogar Gegnerschaft, gegenüber der sozialen und kulturellen Modernisierung, wie sie vor allem in der Globalisierung zum Ausdruck kommt. Damit hat die AfD, wie in der Studie betont wird, im Parteienspektrum ein Alleinstellungsmerkmal. Denn die Wähler aller anderen im Bundestag vertretenen Parteien gehören mehrheitlich einem der Milieus der Modernisierungsbefürworter an. Für die Autoren der Studie wird hier eine neue Konfliktlinie in unserer Demokratie sichtbar, die die Gesellschaft spaltet.

Hintergrund der starken Vorbehalte gegenüber der sozialen und kulturellen Modernisierung in den "AfD-freundlichen" Milieus sind starke Ängste, Verunsicherung und Wut. So herrscht im Milieu der bürgerlichen Mitte eine große Angst vor sozialem Abstieg, es wird befürchtet, den erreichten Wohlstand nicht halten zu können. Hinzu kommt die Furcht, durch ein Voranschreiten der sozialen und kulturellen Modernisierung die eigene kulturelle Identität zu verlieren. Im prekären Milieu dominiert die Vorstellung, von den "etablierten Politkern" nichts Positives mehr erwarten zu können, von ihnen als "Bürger zweiter Klasse" betrachtet und behandelt zu werden. 

Eine "Denkzettel-Wahl"

Die negativen Ressentiments im bürgerlichen und im prekären Milieu haben sich weiter verstärkt durch den massenhaften Zustrom von Armuts- und Bürgerkriegsflüchtlingen in den letzten Jahren, wobei bei Vielen die Öffnung der Grenzen für eine große Zahl von Asylsuchenden im Jahr 2015 "das Fass zum Überlaufen" gebracht hat. Bundeskanzlerin Angela Merkel, die die Grenzöffnung veranlasst hatte, wird dafür in den modernisierungsskeptischen Milieus regelrecht angefeindet, was sie auch im Bundestagswahlkampf zu spüren bekam. Ihr wird der Vorwurf gemacht, durch die Aufnahme der vielen Flüchtlinge muslimischen Glaubens die christlich-abendländische Wertebasis unserer Kultur in Gefahr zu bringen, und vor allem im prekären Milieu herrscht Wut über eine angebliche Benachteiligung deutscher Bürger gegenüber den Flüchtlingen.

Der Wahl der AfD in den modernisierungsskeptischen Milieus lag also in vielen Fällen eine Protesthaltung zugrunde, der Wunsch, den etablierten Politikern einen "Denkzettel zu verpassen". Es wäre deshalb abwegig zu behaupten, die Wähler der AfD seien allesamt Rechtsextremisten oder sogar Neo-Nazis. Die Wähler in Deutschland machen sich vielmehr über die Ziele der AfD wenig Illusionen. So glauben laut einer Umfrage von Infratest, dass sich die AfD nicht genug von rechtsextremen Positionen distanziert. Sogar 55 Prozent der AfD-Wähler stört das. Dass sie dennoch für die Partei stimmten, zeigt das Ausmaß an Frust und Wut über die etablierten Politiker, das sich vor allem in Ostdeutschland angestaut hat.

Warum sind die Ostdeutschen dermaßen frustriert?

Wenn man die Gründe, die vor allem die Ostdeutschen dazu veranlasst haben, AfD zu wählen, wirklich verstehen will, muss man meiner Meinung nach einen Blick in die Vergangenheit werfen und sich noch einmal mit dem Geschehnissen bei der deutschen Wiedervereinigung beschäftigen, vor allem damit, was damals "schiefgelaufen ist".

So war ja den Ostdeutschen gelungen, was man "den Deutschen" gar nicht zugetraut hätte, nämlich in einer Revolution, die zudem noch friedlich verlaufen ist, das herrschende Regime zu stürzen. Aber was geschah nach der Revolution? Es fiel – um es überspitzt auszudrücken – eine Horde von westdeutschen "Besserwissern" über die ehemalige DDR her, um denjenigen, die gerade eine friedliche Revolution zustande gebracht hatten, beizubringen, was Demokratie ist, und um Ostdeutschland das westliche Wirtschaftssystem überzustülpen. Das, was die Ostdeutschen in der DDR in 40 Jahren aufgebaut hatten, erschien plötzlich als völlig wertlos und landete "auf dem Müllhaufen der Geschichte". Ganze Biographien wurden dadurch entwertet, die Menschen ihrer persönlichen und sozialen Identität beraubt. Es wurde folglich versäumt, die Ostdeutschen als neue vollwertige Bürger der Bundesrepublik anzuerkennen, ihre Lebensleistung zu würdigen und vielleicht sogar von ihnen zu lernen.

Mit den Erfahrungen eines Verlustes der persönlichen und sozialen Identität könnte auch die starke Ausländerfeindlichkeit in den neuen Bundesländern zusammenhängen. So habe ich an anderer Stelle (https://pagewizz.com/wie-entsteht-fremdenfeindlichkeit-34690/) gezeigt, dass unverarbeitete Identitätsprobleme mit einer Schwächung des Selbstwertgefühls einhergehen, die durch Selbstidealisierung kompensiert wird. Und dieser Prozess kann auf die soziokulturelle Ebene ausgeweitet werden, indem die Betroffenen die Ethnie, der sie angehören, idealisieren und gleichzeitig die anderen Ethnien abwerten. Fremdenfeindlichkeit dient dann sozusagen als Identitätsprothese. Deshalb ist es kein Wunder, dass die ausländerfeindlichen Parolen der AfD vor allem bei den Ostdeutschen auf fruchtbaren Boden fielen. 

Zudem hat es in den 27 Jahren, die seit der "Wende" vergangen sind, noch andere handfeste Fehlentwicklungen in Ostdeutschland gegeben. So wurden zwar die meisten öffentlichen und privaten Gebäude sowie das Straßennetz grundlegend saniert, aber dafür wurde die Infrastruktur massiv ausgedünnt. In den kleineren Ortschaften verschwanden die Schulen, die Arztpraxen und die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr.

Die wesentlichen Motive der westdeutschen AfD-Wähler

Nun haben aber auch 10,7 Prozent der Westdeutschen – überwiegend aus Protest - die AfD gewählt, und offensichtlich hat auch hier Fremdenfeindlichkeit, insbesondere die Aversion gegenüber Muslimen, eine große Rolle gespielt. Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass Westdeutschland im Gegensatz zu Ostdeutschland tatsächlich seit vielen Jahren eine multikulturelle Einwanderungsgesellschaft ist, auch wenn das von manchen Politikern immer noch geleugnet wird. In einer solchen Einwanderungsgesellschaft aber fühlen sich vor allem die Deutschen, die dem bürgerlichen und dem prekären Milieu angehören, in einer defensiven Verteidigungsposition, sehen sich als "Fremde im eigenen Land".

Indem sie sich nun von den tatsächlichen Fremden abgrenzen und diese ablehnen, vergewissern sie sich, immer noch Teil der Mehrheitsgesellschaft zu sein und hier ihre Heimat zu haben. Aber auch die Furcht, durch die Notwendigkeit der Versorgung der "Fremden" selber ökonomische Einbußen zu erleiden oder mit ihnen am Arbeitsmarkt konkurrieren zu müssen, ist in der westdeutschen Einwanderungsgesellschaft insbesondere im bürgerlichen und im prekären Milieu sehr groß.

Schlussfolgerungen

Der Wahlerfolg der AfD bei der Bundestagswahl am 24. September hat meiner Meinung nach gezeigt, dass es in der Bundesrepublik, insbesondere in den neuen Bundesländern, viele Probleme gibt, die von der Politik nicht gelöst, sondern jahrzehntelang "unter den Teppich gekehrt wurden". Offensichtlich sahen deshalb viele Bürger in der Wahl der rechtsextremen AfD die einzige Möglichkeit, die etablierten Politiker "wachzurütteln" und sie dazu zu bringen, diese Probleme endlich zur Kenntnis zu nehmen.

Immerhin reagierten viele Politiker auf das Wahlergebnis sichtlich geschockt. Dieses Ziel haben die Protestwähler erreicht. Sozusagen die "Kollateralschäden" des Wahlerfolgs der AfD, die die Wähler in ihrer Wut nicht bedacht haben, sind eine Beschädigung der Demokratie in Deutschland sowie enorme Schwierigkeiten, eine neue, handlungsfähige Regierung zu bilden. Aber Wählerschelte hilft nicht weiter. Die Hauptschuld tragen die Politiker, die nicht wahrhaben wollten, wie sehr es unter der Fassade der deutschen Wohlstandsgesellschaft gebrodelt hat.

Ich möchte hier drei Konfliktpunkte nennen: 1. grundlegende Fehler beim Prozess der deutschen Wiedervereinigung, durch die den Bürgern der ehemaligen DDR das neue demokratische System fremd blieb, 2. eine verfehlte – neoliberale - Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, durch die viele Bürger in die Armut oder in prekäre Beschäftigungsverhältnisse getrieben wurden, und 3. die Unfähigkeit, ein modernes Einwanderungsgesetz zustande zu bringen, um die Integration der Migranten zu gewährleisten. Grundlage des Erfolgs der AfD sind also der Graben zwischen Ost und West, die zunehmende soziale Spaltung der deutschen Gesellschaft und die Aufrechterhaltung der Lebenslüge, Deutschland sei kein Einwanderungsland.

Quellennachweis:

https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung/pid/bundestagswahl-2017-wahlergebnis-zeigt-neue-konfliktlinie-der-demokratie/

http://www.infranken.de/regional/bundestagswahl/news/bundestagswahl-2017-wer-hat-die-afd-gewaehlt;art167830,2920910

 http://www.sueddeutsche.de/politik/afd-bei-bundestagswahl-sechs-grafiken-die-den-erfolg-der-afd-erklaeren-1.3681714

http://www.huffingtonpost.de/2017/09/24/afd-waehler_n_18089054.html

https://www.bnr.de/artikel/hintergrund/wer-w-hlte-warum-die-afd

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