Von Tüten und Tasten

Es war zu spät.

Ich brauchte mir nichts vorzumachen.

Die Erkenntnis traf mich innerhalb kürzester Zeit gleich zweimal mit voller Wucht, und sie war grauenvoll.

Von Tüten und TastenErstens: Ich hatte meine Einkaufsliste zuhause vergessen. Den ganzen Vormittag hatte ich darauf verwendet, sie zu erstellen. Nein, falsch, ich hatte fast den ganzen Tag darauf verwendet, sie zu erstellen. Ich hatte jedes Detail bedacht, hatte auf meiner Entdeckungstour durch Kühl- und Hängeschränke Dinge entdeckt, von deren Existenz ich bis dahin keine Ahnung gehabt hatte, hatte andere Produkte wieder gestrichen oder ersetzt. Nachdem ich die Kladde fertiggestellt hatte, begann ich mit der Reinschrift. Diese berücksichtigte die Vielzahl an Gängen, durch die ich meinen Einkaufswagen schieben musste, um mein Ziel zu erreichen. "Kaffee" stand ganz vorn auf meiner Liste. Er stand im Supermarkt gleich links, nachdem man die magische Schranke überschritten hat, die sich wie von Geisterhand öffnet, wenn man sich ihr nähert. Wenn ich bei der "Milch" angekommen wäre, hätte ich die Hälfte meines Einkaufs hinter mir und würde mich in die Gegend der Kassen vorarbeiten, stets mit einem geschulten Blick dafür, welche Schlange die kürzeste war.

 

Das allein allerdings reicht bei Weitem nicht aus, um auch wirklich schnell dran zu kommen. Man muss zweitens beachten, wie voll die Einkaufswagen sind. Am besten sind Einkaufsschlangen, in denen viele Männer stehen, ohne Frau, versteht sich. Sie füllen meist nur den Boden des Wagens und sind schnell verarbeitet. Frauen dagegen, womöglich noch Frauen mit Kindern, geben sich erst zufrieden, wenn der Wagen so voll ist, dass sie ihn nur noch navigieren können, indem sie rechts und links an ihm vorbeiblicken.

Der dritte Faktor sind die Kassiererinnen oder manchmal auch Kassierer. Es gibt drei Kategorien von Kassiererinnen. Die erste ist "die Schnelle". Wenn sie die Einkäufe scannt, sieht sie nicht, wen sie vor sich hat, es interessiert sie einen feuchten Dreck, ob da ein Mann steht, eine Frau, ein Kind oder ein Schaf, ob der Wagen voll oder leer ist. Sie sieht nur die Produkte, die sich ihr unaufhaltsam auf dem Laufband entgegenschieben. Sie packt sie mit einer außergewöhnlichen Routine, dreht sie mit geübten Griffen so, dass der Scan-Code gelesen werden kann und hebt ihren Kopf nur ein einziges Mal, bevor sie mit der Arbeit beginnt. Um in den Wagen zu sehen und sich zu vergewissern, ob auch alle Waren auf das Band gelegt wurden. Die Gespräche mit ihr beschränken sich auf Fragen wie "Kann ich bitte mal in Ihre Tasche sehen?" oder "Heben Sie bitte einmal die Tüte hoch!"

Am besten antwortet man dann unverzüglich mit "Selbstverständlich" und öffnet die Tasche oder hebt die Tüte im Wagen hoch. Diskussionen darüber, wie enttäuscht man über das fehlende Vertrauen ist oder, dass man sich in seinem ganzen Leben nie etwas hat, zuschulden kommen lassen, stoßen auf wenig Verständnis bei den "Schnellen". Es versaut ihnen nur ihre Zeit, und das mögen sie gar nicht.

 

Die zweite Kategorie von Kassiererinnen sind "die Anfänger". Ich möchte betonen, dass ich nichts gegen sie habe, sie sind die Zukunft, sie müssen ausgebildet werden und Fehler machen auf dem Weg zur Kategorie "die Schnellen". Aber sie tragen dazu bei, dass aus einer kurzen Schlange sehr schnell eine lange Schlange werden kann, wenn sie vergessen haben, welche Tastenkombinationen sie drücken müssen, was sie tun müssen, wenn der Code nicht gelesen werden kann oder sie zu ihrer Kollegin herüberrufen müssen "Was kommen die Tomaten diese Woche?" oder "Sind die Kondome im Angebot?"

 

Die dritte Kategorie von Kassiererinnen sind "die Schönen". Wenn ich an der Kasse eine Frau Von Tüten und Tastendieser Kategorie sehe, sind die ersten beiden Faktoren hinfällig geworden, es sei denn, ich hab es wirklich eilig. Wenn ich aber Zeit habe, genieße ich es, der Schönen auf die Hände zu sehen und zu beobachten, wie sie meine Butter liebkost oder die Milch sanft anschiebt. Meistens versuche ich, zum Schluss noch einen Witz zu machen, um mit dem Gefühl nach Hause zu fahren: Du hast es noch drauf, Mann, Du hast es noch drauf!

Nicht selten ist es aber eher der Gedanke "Oh Gott, das war ja wieder peinlich", der mich begleitet, wenn die Schöne sich als humorlos erweist.

 

Es war zu spät.

Zum Umkehren.

Ich hatte bereits deutlich mehr als die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als es zu regnen begann. Als ich mich mit meinem schwächelnden Motorroller gerade dem Schild der 30-Kilometer-Zone näherte und -wie immer- dachte "Scheiße, zu schnell, schaff ich nicht", trafen mich die ersten Tropfen.

Meine zweite Erkenntnis bestand also in der Tatsache, dass es sinnlos wäre, zurückzufahren und mir mein Regencape überzustreifen, denn ich hatte so viel Zeit auf das Erstellen einer perfekten Einkaufliste benötigt, dass der Supermarkt geschlossen haben würde, bis ich endlich wieder dort wäre.

"Warum ist dieser Scheiß-Roller aber auch so verdammt langsam!" dachte ich, als ein älteres Ehepaar mich auf ihren Rädern überholte. Ich war lange genug neben ihnen, um zu hören, wie sie zu ihm sagte: "Schatz, jetzt sollten wir uns aber beeilen, sonst kommen wir zu spät."

Wollten sie mich demütigen mit dieser Aussage, dass sie nicht einmal volle Kraft fahren mussten, um an mir vorbeizurauschen?

Kurze Zeit später sah und hörte ich sie nicht mehr. Sie waren einfach zu schnell.

Dafür hörte ich das Platschen der Regentropfen auf meinen Helm und merkte, wie das Wasser sich nach und nach durch den Stoff meiner Hose und meiner Jacke arbeitete. Dazu gesellte sich das leidenschaftliche Gefühl, das man erlebt, wenn die Füße beginnen, kälter und nasser zu werden.

 

Als ich beim Supermarkt ankam, war ich durchnässt bis auf die Knochen.

Ich fingerte meinen Chip für den Einkaufswagen aus dem Portemonnaie, was gar nicht so leicht ist, wenn man die Finger nicht spürt. Den Helm verstaute ich im Wagen und fuhr in den Supermarkt.

Im nächsten Moment bot sich mir ein Anblick des Grauens. Im musste etwas verpasst haben, vielleicht die Meldung über eine plötzliche lokale Hungersnot, 19 aufeinander folgende Feiertage oder etwas Vergleichbares. Der Supermarkt war nicht gut gefüllt, es war auch nicht voll, er war der Beweis dafür, dass mehr Menschen als Sauerstoffmoleküle in einen Raum passen. Hinter mir hörte ich das verärgerte "Geht's heut noch weiter?" eines Mannes, der mir gerade den Einkaufswagen in die Hacken geschoben hatte.

Ich gab Gas. Zuviel davon, denn die Schranke reagierte einen Moment zu spät, um sich mir zu öffnen und ein imaginäres "Herzlich willkommen!" zu hauchen. Ich rasselte mit meinem Wagen dagegen. Das führte zum nächsten Angriff von hinten. Diesmal murmelte der Kerl, der es offenbar auf mich abgesehen hatte, so was wie "Ich Glaubens ja nicht!", bevor er mir in die Ferse schoss.

Einen Moment später war ich im Laden, sah den Platz, wo der Kaffee stand und sah, dass dort kein Kaffee stand. Ausverkauft.

Kaffee. Ausverkauft. Was für ein Alptraum!

Einatmen. Ausatmen. Keine Zeit verlieren. Es ist wie beim Sport. Eine kurzfristige Niederlage bedeutet nicht, das Spiel verloren zu haben, man muss weiter machen, immer weiter machen, nicht an das Gewesene denken, sondern nach vorn schauen, nach vorn, weitermachen, weitergehen, immer die nächste Aufgabe im Blick und den letzten Einkaufswagen-Rempler im Gedächtnis.

Also setzte ich mich in Bewegung und wurde zu einem Teil der Masse, die sich wie ein riesiger Organismus durch die Gänge schob. Wenig später hatte ich meinen Rhyhtmus gefunden.

 

An der Brottheke kam ich das erste Mal zum Stehen. Ich war froh über die Pause, denn so hatte ich Gelegenheit, meine Muskeln zu dehnen, die Atmung zu kontrollieren und darüber nachzudenken, was noch alles auf der Einkaufsliste stand. Mir war klar, dass der Abgleich später, Von Tüten und Tastenwieder zuhause, ein Desaster werden würde. Es war unmöglich, an alles zu denken, was auf dem Zettel stand. Deswegen macht man ja Zettel, herrgottnachmal! Innerlich kochte ich.

 

Vor mir stand eine Frau mit ihrem Sohn, der offenbar sehr genau wusste, was er wollte.

"Ich will Milchbrötchen", sagte der kleine Racker.

"Jan-Viktor", ermahnte ihn seine Mutter, "Du weißt doch, dass Du heute schon etwas Süßes hattest. Mehr gibt es nicht. Such Dir etwas anderes aus."

"Kuchen", schoss es dem Kind aus dem Mund und ich begann zu fürchten, dass mein Aufenthalt hier länger dauern würde, als ich angenommen hatte.

"Kuchen ist auch süß, Spatz.

"Der Junge gab nicht auf. "Streusel", sagte er mit Entschiedenheit.

"Streusel alleine gibt es hier nicht, mein Schatz. Die kann man nicht alleine essen."

"Bitte", sagte ich und bereute es sofort, "kaufen Sie dem Jungen irgendwas und halten Sie hier nicht den Betrieb aus. Der Laden ist so voll, dass bereits das Militär im Anmarsch ist, um den Verkehr zu organisieren."

Sie sah mich mit einem Blick an, der so kalt und tot war wie der eines Psychopathen, und sagte mit ruhiger, aber schneidender Stimme: "Wenn Sie so freundlich wären, sich da raus zu halten, junger Mann. Die Ernährung meines Sohnes liegt mir sehr am Herzen, und ich denke nicht, dass Sie da ein Wörtchen mitzureden haben.".

"Nein", sagte ich, "natürlich nicht. Aber es ist voll, mir ist kalt und..."

"Dann hätten Sie sich vielleicht etwas anderes anziehen sollten", zischte sie.

Ich gab es auf.

"Mohnbrötchen", sagte der Nachwuchs, der ganz offenbar kein Freund von Nebenätzen war.

Jetzt wurde die Mutter nervös. "Liebling, von Mohn werden Kinder high, das geht doch nicht."

Als die Verkäuferin, inzwischen ebenfalls sichtlich genervt, die Mutter fragte, wie viel Mohnbrötchen bei Erwachsenen nötig wären, um high zu werden, sah ich das Unfassbare. Auch die Zwiebelbrote waren ausverkauft. Mein Boxenstopp war also umsonst gewesen. Ich hörte noch, wie die Mutter zur Verkäuferin sagte "Das kann ich Ihnen gar nicht sagen, aber ich denke, dass..."

 

Der Rest ging im allgemeinen Gemurmel der Einkaufenden unter. Ich hatte mich mit einem Blick über die Schulter und einer schnellen Bewegung wieder in den fließenden Verkehr eingeordnet, diesmal ohne dabei von hinten gerammt zu werden. Als ich aber wieder nach vorn blickte, war es passiert. Ich war meinem Vordermann in die Hacken gefahren.

"Oh Mann, sagte dieser jetzt, "Sie sind ja ein ganz besonderer Kandidat. Wegen Ihnen gehen wir noch alle drauf."

Ich fand's nicht so lustig, aber die Gattin amüsierte sich köstlich. Er war der Kerl, der mir vor ein paar Minuten zweimal in die Hacken gefahren war.

"Zwei zu eins", dachte ich und ignorierte die geistreiche Bemerkung des Mannes.

 

Als ich die Kasse erreichte -oder besser: sie in weiter Ferne sah und mich in die Schlange einreihte- war mir so kalt, dass ich das Gefühl hatte, mich bewegen zu müssen, um nicht zur Eissäule zu erstarren. Es ging aber relativ schnell vorwärts, denn mit erfahrenem Blick hatte ich mir eine Kasse mit einer Kassiererin der Kategorie "Die Schnelle" ausgesucht. Kurze Zeit später begann ich, meine Sachen auf das Band zu legen und wurde mit der dritten Erkenntnis dieses Tages konfrontiert. Nie und nimmer hatte ich auch nur ansatzweise das im Wagen, was auf dem Zettel stand. Aber es gab inzwischen Wichtigeres. Ich musste hier raus, musste nach Hause, heiß duschen und einen Kaffee trinken. Spontan entschied ich mich um. Kakao war auch eine Option, insbesondere wenn man keinen Kaffee hat!

Weil er ausverkauft ist.

Kaffee!

Ausverkauft!

 

Die Kassiererin begann, meinen Einkauf zu scannen, ich bückte mich, um mir eine Tüte zu nehmen. Die legte ich in den Einkaufswagen. Als die Kassiererin fertig war, sagte ich:"Und eine Tüte liegt im Wagen."

Zu meinem Erstaunen sagte sie:"Neu oder gebraucht?"

Ich verstand nicht. Die hinter mir Stehenden offenbar auch nicht. Allgemeine ratlose Blicke.

"Pardon", sagte ich, "was sagten Sie gerade?"

Wir kamen in eine unangenehme Phase, denn meine Nachfrage führte zu einem fatalen Umstand: Ich war gerade dabei, der Dame ihre Zeit zu versauen.

Entsprechend unwirsch sagte sie:"Ob die Tüte neu oder gebraucht ist, will ich wissen."

Meine nun folgende Entgegnung war mein Todesurteil.

Ich fragte:"Wieso? Verkaufen Sie neuerdings auch gebrauchte Tüten?"

Ihr Blick hätte eisiger nicht sein können, als sie sagte:"Es hätte ja sein können, dass Sie sie mitgebracht haben", giftete sie.

"Dann hätte ich Ihnen das auch so gesagt", mittlerweile war auch meine Laune auf dem Tiefpunkt angekommen. Eher sub-optimal für einen harmonischen Verlauf des weiteren Gesprächs.

"Also, was ist denn nun? Ist sie neu oder gebraucht? Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit!"

Soso, dachte ich, aber ich habe den ganzen Tag Zeit. Ich find's prima, hier zu stehen, durchnässt und frierend. Es ist toll, besonders wenn man sich dabei auch noch nett unterhalten kann. Doch ich schluckte meinen Ärger herunter und sagte statt dessen:"Nein nein, die Tüte ist gebraucht, ich hab sie von zuhause mitgebracht."

Sie nickte und nannte mir den Preis für meinen Einkauf. Kein weiteres Wort kam aus ihrem Munde. Auch der Blickkontakt war für alle Zeit beendet.

 

Als ich meinen Einkauf in der Tüte verstaut hatte, suchte ich den Kerl, der für den Schmerz meiner Hacken verantwortlich war, schließlich hatten wir noch eine Rechnung zu begleichen. Aber ich fand ihn nicht und raste in unfassbarem Tempo nachhause. Der Regen hatte inzwischen aufgehört, es war nur noch windig, was mit nassen Klamotten auch nicht wirklich schön ist. Am Schild der 30-Kilometer-Zone dachte ich -wie immer- "Schaff ich nicht, schaff ich nicht, verdammt nochmal!" und spürte neben einer schrecklichen Kälte so etwas wie Erleichterung, als ich den Roller abstellte und die Wohnungstür aufschloss.Von Tüten und Tasten

Nach der heißen Dusche und an einem Tee mit Schüssen nippend betrachtete ich noch einmal den Einkaufsbeleg. Dort war mir eine Tüte berechnet worden.

Ob es sich dabei um den Preis für eine neue oder gebrauchte Tüte handelte, war dem Beleg nicht zu entnehmen...

 

Autor seit 13 Jahren
8 Seiten
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