Das System der DDR- Erziehungshilfe

Um die angestrebte Entwicklung sozialistischer Persönlichkeiten abzusichern, errichtete das DDR-Ministerium für Volksbildung ein System der "Erziehungshilfe". Es bestand im Prinzip aus einem Netzwerk verschiedener Umerziehungsanstalten.

  • Kinder wurden in sogenannten Spezialkinderheimen untergebracht.
  • Durchgangsheime waren vergittert und mit Arrestzellen versehen. Sie dienten der zwischenzeitlichen Internierung von Kindern und Jugendlichen, ehe diese in ihre künftigen "Stammeinrichtungen" verbracht wurden.
  • In den Jugendwerkhöfen wiederum absolvierten Jugendliche ab ungefähr 14 Jahren eine "Teilberufsausbildung", während welcher sie im Akkord stumpfsinnige und teilweise gesundheitsgefährdende Zwangsarbeit leisteten.

In solchen Einrichtungen untergebrachte Kinder und Jugendliche galten offiziell und umgangssprachlich als "Schwererziehbare". In einigen Fällen handelte es sich dabei um junge Menschen, welche von ADHS oder sexuellem Missbrauch betroffen waren. Andere Insassen dieser Einrichtungen wiederum wiesen lediglich typisch pubertäre Verhaltensweisen oder abweichende politische Ansichten auf. Das gesamte Geflecht der Heime und Jugendwerkhöfe basierte auf der sogenannten Schwarzen Pädagogik, setzte also vorrangig auf Willensbrechung, Bestrafung und Zerstörung des Selbstwertgefühls, um anschließend eine neue Ideologie im Denken des Opfers zu "installieren". Die DDR-Erziehungshilfe unterstand übrigens direkt dem Ministerium für Volksbildung. Die verantwortliche Ministerin hieß Margot Honecker und war die Ehefrau des langjährigen Staatschefs Erich Honecker.

Der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau

Als gefürchtete Endstation dieses Systems galt der Geschlossene Jugendwerkhof (GJWH) Torgau. Wer sich in den "normalen" Jugendwerkhöfen renitent zeigte, häufig widersprach, der Arbeitsbummelei verdächtig war oder einen Fluchtversuch beging, landete zu Disziplinierungszwecken in Torgau. Über seine dortige Aufenthaltsdauer, welche bis zu sechs Monaten betragen konnte, erhielt der Betroffene nur vage Angaben. Der ummauerte Gebäudekomplex des GJWH wurde 1901 errichtet und mehrfach ausgebaut. Militär und Justiz des Kaiserreiches nutzten die Anlage ebenso als Gefängnis wie später das Hitler-Regime, die sowjetische Geheimpolizei und der DDR-Jugendstrafvollzug. Nach kurzzeitigem Leerstand übernahm 1964 das Volksbildungsministerium die Immobilie und richtete den Geschlossenen Jugendwerkhof ein. Bis zu 60 Insassen beiderlei Geschlechts konnten hier in drei Gruppen gleichzeitig "diszipliniert" werden.

Die Opfer und ihre Leiden

Keiner der insgesamt über 4000 Torgauer Insassen befand sich aufgrund einer gerichtlichen Verurteilung im Geschlossenen Jugendwerkhof. Es handelte sich also nicht um jugendliche Straftäter. Dennoch glich der minutiös eingetaktete Wochenablauf einer verschärften Gefängnishaft: Zwangsarbeit, Politunterricht, militärischer Umgangston, Fortbewegung im Laufschritt und Sport bis zur völligen Erschöpfung. Individualität wurde durch Einheitskleidung und kahlrasierte Köpfe unterbunden. Zu den Erziehungsmaßnahmen gehörte zudem Isolationshaft. Damit machte jeder Insasse gleich bei seiner Ankunft mehrere Tage lang Bekanntschaft, als vorbeugende Maßnahme sozusagen.

"Verfehlungen" Einzelner wurden mit der Bestrafung der gesamten Gruppe geahndet, welche sich dafür natürlich nachts durch Prügel revanchierte. Die Erzieher besaßen Schlagstöcke, nutzten für Kopfnüsse jedoch auch gern einen riesigen Schlüsselbund. Die hygienischen Bedingungen waren katastrophal, ein Umstand, der wie alle anderen Attribute bewusst als "Schocktherapie" einkalkuliert wurde. Pikantes Detail am Rand: Ganz nach dem Vorbild nationalsozialistischer Konzentrationslager wurden die Torgauer Insassen für ihren unfreiwilligen Aufenthalt sowie für die Transportfahrten auch noch zur Kasse gebeten. Nach der Rückkehr in die "Stammeinrichtung" mussten die Jugendlichen dem Torgauer Direktor regelmäßig Berichte über ihre Fortschritte zusenden. Eine erneute Überstellung nach Torgau drohte jederzeit und wurde häufig auch Realität. Längst nicht alle Insassen ertrugen diesen psychischen und physischen Druck. Es kam immer wieder zu Selbstmordversuchen, von denen einige gelangen. Auch heute noch kämpfen Betroffene um die psychische Aufarbeitung ihrer Torgauer Erlebnisse.

Blick in die Ausstellung

originales Schließ- und Schlagwerkzeug

Die Täter: der Bestrafung entkommen

Als die DDR im Herbst 1989 zusammenbrach, begannen im GJWH Torgau hektische Aktivitäten. Ein Anruf aus dem Volksbildungsministerium (dessen Chefin Margot Honecker soeben zurückgetreten war) bewirkte, dass innerhalb weniger Tage sämtliche Insassen das Gelände verließen. Die Angestellten der Einrichtung entfernten anschließend diverse Gitter und andere auffällige Hinterlassenschaften. Danach wurde das Gebäude unter Beibehaltung des Personals vorübergehend als Internat einer Hilfsschule genutzt. Erst 1990 kam es zur Untersuchung der Zustände im Geschlossenen Jugendwerkhof. Daraufhin wurden alle Erzieher entlassen und teilweise auch mit Geldstrafen belegt. Mehr geschah nicht. Einige der Täter sollen bis heute nahezu unbehelligt in der Region leben.

Als faktischer und später tatsächlicher Direktor des GJWH Torgau fungierte während des gesamten Bestehens der Einrichtung ein ursprünglich ungelernter Erzieher namens Horst Kretzschmar. Viele der Schikanen und menschenunwürdigen Bedingungen gingen auf sein persönliches Engagement zurück. Der Mann, der laut Opferberichten in Torgau ungehemmt seine pädophilen Neigungen ausleben konnte, musste sich nie verantworten. Noch während der Auflösung seiner Einrichtung verstarb er am 9. November 1989, dem Tag der Grenzöffnung. Auch Margot Honecker, die politische Verantwortliche, wurde nicht zur Rechenschaft gezogen. Obwohl mehrere Strafanzeigen gegen sie gestellt wurden, reichte die beweisbare juristische Sachlage für eine Verurteilung angeblich nicht aus.

Wie frühere Nazigrößen auch, verkroch sich Margot Honecker nach dem Ende der roten Diktatur in Südamerika. Sie lebte in Chile, wo sie 2009 ungeniert den 60. Jahrestag der DDR-Gründung mit einer kleinen Rede feierte. Die Unverbesserliche starb 2016 ohne ein Zeichen der Reue.

Der ehemalige GJWH Torgau heute

Ein Großteil der ehemaligen Einrichtung wurde ab 1996 baulich stark verändert und zu Wohnungen umgestaltet. Lediglich das unter Denkmalschutz stehende Verwaltungsgebäude beinhaltet die heutige Gedenkstätte mit einer ergreifenden Dauerausstellung. Neben Fotos, Film- und Tondokumenten, Informationstexten sowie einigen Relikten erschließt sich hier die Geschichte der Betroffenen zweimal auf besondere Weise: Zum Einen können originale Opferakten eingesehen werden. Ein weiterer Raum trägt an den Wänden Fotografien ehemaliger Insassen. Diese Bilder leuchten auf, sobald die Stimme der jeweils Betreffenden über das Leben in Torgau spricht. Bei Führungen wird zudem eine der Arrestzellen gezeigt.

Donky, am 27.02.2017
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