Vom Praktikanten zum Taxifahrer

Auch wenn die Arbeitslosenquote unter Akademikern geringer sein mag als unter anderen Berufsgruppen, so bedeutet das nicht, dass Hochschulabsolventen leicht einen adäquaten Arbeitsplatz fänden. Dauerpraktikanten und Taxifahrer mit Hochschulabschluss sind keine Erfindung der Medien, es gibt sie wirklich. Geisteswissenschaftler verfügen oft über viel Fantasie und Initiative und sind nicht streng auf ein bestimmtes Berufsfeld festgelegt. Das verführt dazu, jeden verfügbaren Job anzunehmen, nur um der Arbeitslosigkeit zu entgehen. Ist man aber erst einmal in so einer "Zwischenlösung" gelandet, wird der Eintritt in das eigentlich angestrebte Berufsfeld sehr erschwert oder unmöglich gemacht. Denn nicht nur die Arbeitsagentur kategorisiert die Arbeitsuchenden nach der zuletzt ausgeübten Beschäftigung; auch Arbeitgeber haben Vorbehalte, einen Politologen einzustellen, der ein Jahr lang als Ziegenhirte gearbeitet hat.

Wie autonom sind Selbstständige?

Ist auch nach mehrjähriger Suche kein angemessener Arbeitsplatz gefunden, suchen manche Akademiker den Ausweg in der Selbstständigkeit. Während dies etwa für Ärzte und Rechtsanwälte einen völlig normalen und lukrativen Berufsweg darstellt, sieht die Situation für Geisteswissenschaftler anders aus. Texter und Lektor etwa sind keine geschützten Berufsbezeichnungen, das heißt, jeder darf sich so nennen. Und es gibt genügend Verzweifelte, die nach einer Nische auf dem Arbeitsmarkt suchen und von dieser Freiheit Gebrauch machen.

Das führt dazu, dass ein harter Konkurrenzkampf unter Textern und Lektoren entsteht, der zu einem großen Teil über die Preisgestaltung ausgetragen wird. Denn viele Kunden sind gar nicht in der Lage, die Qualität der Arbeit von Textern und Lektoren zu beurteilen. Wer selbst mit Rechtschreibung und Grammatik auf Kriegsfuß steht, wie will der wissen, ob es seinem "Lektor" nicht ebenso geht. Durch das Internet haben sich viele sprachliche Angewohnheiten eingebürgert, die nach den offiziellen Regeln falsch sind. Wer da einfach mit der Masse schwimmt, weiß gar nicht, wie fehlerhaft seine Ausdrucksweise ist. Das gilt auch für Lektoren ohne entsprechende Aus- oder Weiterbildung.

Der Kunde findet zwar eine unüberschaubare Anzahl an Agenturen und Selbstständigen vor, die ihre Dienste anbieten, aber er hat kaum Kriterien, nach denen er seine Auswahl treffen kann. Oft macht dann der mit dem billigsten Angebot das Rennen. Ob das dann auch das beste ist, darf bezweifelt werden.

Ein Lektorat ist keine Hexerei

Denn was bedeutet es wirklich, wenn ein Lektor nur ein bis zwei Euro pro Seite verlangt? Hat der Kunde Glück, handelt es sich um einen Hobby-Literaten oder die Frau eines gut verdienenden Ehemannes, die sich langweilen und für ihre Freizeitbeschäftigung nur ein kleines Taschengeld erwarten. Hat der Kunde dagegen Pech, handelt es sich um jemanden, der als Lektor seinen Lebensunterhalt verdienen will und so verzweifelt nach Aufträgen sucht, dass er jeden Konkurrenten unterbietet. Da man auf dieser Preisbasis sehr viel lektorieren muss, um vielleicht gerade eben so überleben zu können, bleibt die Qualität natürlich auf der Strecke. Denn es gibt zwar genügend Menschen, die Meister im Schnell- und Querlesen sind, aber das hat mit dem gewissenhaften Lektorieren von Texten nichts zu tun. Niemand kann pausenlos und stundenlang wissenschaftliche oder sonstige anspruchsvolle Texte lesen, dabei möglichst alle Fehler finden und korrigieren, Ausdruck und Stil verbessern, Logiklücken und Argumentationsfehler aufdecken und dabei noch Geschwindigkeitsrekorde aufstellen. Das allerdings ist den meisten Kunden nicht klar, denn man glaubt doch zu gern an Wunder!

Klaus, der Taxifahrer

Betrachten wir nun ein konstruiertes Beispiel, das nicht allzu weit von der Realität entfernt ist. Klaus Mutalski hat Germanistik studiert und seine Abschlussprüfung mit Auszeichnung bestanden. Er arbeitet in einem Projekt an seiner Uni, das sich der Herausgabe des Nachlasses eines berühmten Schriftstellers widmet. Das Projekt ist auf viele Jahre angelegt, aber Klaus erhält immer nur einen zeitlich befristeten Vertrag. Nach einigen Jahren wird das Arbeitsverhältnis nicht mehr verlängert, denn die Uni möchte vermeiden, dass Klaus automatisch einen Anspruch auf eine reguläre Stelle erwirbt. Ein anderer Arbeitsplatz im akademischen Bereich ist erst mal nicht in Sicht.

Um nicht arbeitslos zu werden, fährt Klaus nun Taxi. Das macht ihm Spaß, denn er ist gern mit Menschen zusammen und kommt auf diese Weise viel in der näheren Umgebung herum. Oft fährt er Nachtschichten, denn die werden besser bezahlt. Um den Kontakt zu seinem eigentlichen Beruf nicht zu verlieren, entschließt er sich, nebenbei als Lektor zu arbeiten. Das hat er schon im Studium gemacht und damit oftmals seinen Kommilitonen aus der Patsche geholfen. In sprachlichen Fragen ist er topfit.

Am liebsten würde er sich hauptberuflich selbstständig machen, aber er muss schnell erfahren, dass die Kundenaufträge nicht so reichlich fließen, wie es für seinen Lebensunterhalt nötig wäre. Also fährt er nun zweigleisig: Taxi und als Lektor.

Obwohl ihm die Arbeit immer noch Spaß macht, muss er nach einiger Zeit doch feststellen, dass ihm die häufigen Nachtschichten, der ständige Schlafmangel und der unregelmäßige Tag- und Nachtrhythmus gesundheitlich und stimmungsmäßig arg zusetzen. Wenn er frühmorgens oder spätabends vom Taxifahren nach Hause kommt, ist er oft so erschöpft, dass er sich zu keiner anspruchsvollen Tätigkeit mehr aufraffen kann. Andererseits ist er aber auch zu überdreht, um gleich zu Bett zu gehen und sich auszuschlafen. Außerdem muss er irgendwann auch was essen, aber um sich selbst etwas zu kochen, reicht seine Energie nicht mehr. Da bleibt nur noch ungesundes Fast Food. In den letzten zwei Jahren hat er schon zehn Kilo zugenommen. In solchen Momenten ist Klaus froh, wenn er keine Lektoratsaufträge zu erledigen hat.

Manchmal fragt er sich, ob er das Lektorieren nicht aufgeben sollte und stattdessen ganz vom Taxifahren leben. Das ist zwar anstrengend, aber man braucht wenigstens nicht viel nachzudenken. Aber andererseits: Sprache, Bücher, Literatur – das ist doch sein eigentliches Berufsfeld, da kennt er sich aus, da liegen seine Interessen und Fähigkeiten, und er will doch auch nicht völlig verblöden. Die Aufträge kommen allerdings so unregelmäßig, dass er sich darauf finanziell nicht verlassen und auch keine ordentliche Zeitplanung einhalten kann.

Der Verdienst beim Taxifahren ist ebenfalls starken Schwankungen unterworfen. Manchmal sieht Klaus sich schon auf dem Weg zum Jobcenter, um Hartz IV zu beantragen, dann wiederum hat er so viel Arbeit, dass er kaum zum Schlafen kommt.

Hurra, eine Kundenanfrage!

Heute ist auch so ein Tag. Klaus hat zwei Nachtschichten hinter sich, hat zwischendurch nur jeweils zwei Stunden geschlafen, jetzt ist endlich Feierabend. Da surrt sein Handy, eine Kundenanfrage per E-Mail liegt in seinem Postfach:

 

Sehr geehrter Herr Mutalski,

da ich mich gerade in der Abschlussphase meines Masterstudiums befinde, suche ich nach einem kompetenten Lektor für meine Masterarbeit. Hätten Sie Zeit, meine Arbeit zu lektorieren? Der Abgabetermin ist in vier Wochen, zurzeit bin ich allerdings noch mit Schreiben beschäftigt. Im Anhang habe ich ein paar Probeseiten mitgesendet, sodass Sie einen Eindruck von meinem Stil bekommen.

Ich wünsche mir Folgendes von Ihnen:

  • Perfekte Korrektur von Orthografie, Interpunktion, Grammatik
  • Überarbeitung der Stilistik (keine Bandwurmsätze, keine Füllwörter, etc.)
  • Leserfreundlichkeit. Ist die Argumentation verständlich?
  • Vollständige Plagiatskontrolle. Es soll alles im legalen Rahmen stattfinden
  • Keine inhaltlichen Eingriffe in den Text (s.o. kein Plagiat)
  • Endkorrektur des fertigen Ausdrucks
  • Wie viel Zeit würde so ein Lektorat in Anspruch nehmen?
  • Wären Sie auch mit Teilaufträgen einverstanden?
  • Wie sieht die praktische Umsetzung bei Ihnen aus?
  • Bis wann müsste ich Ihnen die Texte liefern?
  • Die Arbeit wird ungefähr 50 Seiten umfassen (ohne Titelblatt, Inhaltsverzeichnis, Fußnoten, Abbildungen und dgl.)
  • Mit welchem Preis müsste ich ungefähr rechnen?

Ich freue mich auf Ihr Probelektorat und den Kostenvoranschlag und verbleibe mit freundlichen Grüßen

Carl Turbo-Simplex

 

Eine sehr ausführliche Anfrage. Klaus ist hin- und hergerissen. Einerseits mag er Kunden, die genau wissen, was sie wollen. Andererseits findet er den Forderungskatalog etwas überkandidelt. Er reicht von Selbstverständlichkeiten (Orthografie, Grammatik, Interpunktion …) bis hin zu Unmöglichkeiten. Plagiatskontrolle? Was soll das denn? Der Autor muss doch selbst wissen, ob und wenn ja, wo er abgeschrieben hat. Will er die Verantwortung dafür etwa auf ihn, den Lektor, abwälzen? Da hat er sich aber getäuscht, das macht Klaus nicht mit, auf keinen Fall!

Er sieht sich die Textprobe an. Sehr sprachgewandt, ein guter Stil. Nur einige Ausdrücke passen inhaltlich nicht, was auf den ersten Blick aber kaum auffällt. Keine Rechtschreibfehler, nur ein falsches Komma. Da kann er seinen niedrigsten Preis ansetzen.

Trotzdem will Klaus nicht sofort antworten. Im Moment ist er zu übermüdet, um den Fragenkatalog abzuarbeiten. Außerdem möchte er für das Probelektorat einen klaren Kopf haben, damit er nicht doch versehentlich etwas übersieht. Also morgen, wenn er ausgeschlafen ist. Soll er dem Kunden vorher noch schnell eine Empfangsbestätigung schicken? Es ist Samstagmittag. Klaus entscheidet sich dagegen. Er wird morgen gleich das vollständige Angebot schicken. Kein Kunde kann erwarten, dass er am Wochenende postwendend eine Antwort auf seine Anfrage erhält. Selbst Montag wäre noch früh genug.

Da er aber noch nicht gleich schlafen kann, stellt Klaus schnell noch einen kleinen Artikel ins Internet, den er schon vor Wochen geschrieben hat und für den er nur noch ein paar Illustrationen zusammensuchen muss. Der Kunde wird ja wohl nicht gerade auf seine Website schauen und beleidigt sein, weil er sich mit anderen Dingen beschäftigt hat, statt sofort auf die Anfrage zu antworten.

Am nächsten Tag, Sonntagmittag, macht Klaus sich ans Probelektorat. Es geht schnell, wie erwartet, aber es kommen doch erstaunlich viele Verbesserungsvorschläge zusammen. Er überschlägt, wie viel Zeit er für die ganze Arbeit benötigen wird, immer vorausgesetzt, dass die Angaben des Kunden stimmen, denn das Manuskript ist ja noch nicht fertig. Er checkt seinen Terminkalender. Gerade in den nächsten Wochen ist er schon stark ausgelastet, aber es könnte noch klappen. Er plant genügend Zeitreserven ein, denn er weiß aus Erfahrung, dass gerade Studenten auf den letzten Drücker immer noch mit Ergänzungen und Veränderungswünschen ankommen.

Klaus formuliert sein Angebot, beschreibt seine Vorgehensweise und beantwortet ausführlich jede einzelne Frage. Gerade will er auf den Senden-Button klicken, da landet eine zweite E-Mail von Herrn Turbo-Simplex in seinem Postfach. Es ist jetzt Sonntag, kurz nach zwei Uhr mittags. "Mann, der ist aber ungeduldig", denkt sich Klaus. Aber es kommt noch ganz anders, als er die E-Mail öffnet:

 

Morgen Herr Mutalski,

schon ausgeschlafen? Betrachten Sie meine Nachricht von gestern als hinfällig, ich habe mich inzwischen anderweitig entschieden.

MfG, Carl Turbo-Simplex

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