Strawinsky mit Nijinsky als Pétrouchka, ca. 1911 (Bild: See page for author [Public domain], via Wikimedia)

"Bei der Uraufführung des Sacre spielte das Publikum die Rolle, die ihm zugedacht war: Es revoltierte von Anfang an. Man lachte, höhnte, pfiff, ahmte Tierstimmen nach, und vielleicht wäre man dessen auf die Dauer müde geworden, wenn nicht die Menge der Ästheten und Musiker in ihrem übertriebenen Eifer das Logenpublikum beleidigt, ja tätlich angegriffen hätte. [...] Mit schiefgerutschtem Diadem in ihrer Loge stehend, schwang die alte Comtesse de Pourtalès ihren Fächer und schrie mit hochrotem Gesicht: ‚Zum ersten mal seit sechzig Jahren wagt man es, sich über mich lustig zu machen!‘"

So berichtet der Schriftsteller und spätere Regisseur Jean Cocteau über die Uraufführung des "Sacre du Printemps" am 29. Mai 1913 im Pariser Théâtre des Champs-Elysées.

Wenn man kritisch auf die Aggressivität moderner populärer Musikstile wie Rock und Rap verweist, dann wird gerne dieser Skandal als Argument vorgebracht, dass klassische Musik ebenso aggressiv sein – und machen – könne. Strawinsky und Rolling Stones – kein Unterschied?

Nun, Tumulte bei Aufführungen klassischer Musik blieben die Ausnahme, und der letzte muss schon ziemlich lange her sein. Bei Rockkonzerten sind vielleicht die Zeiten der großen Verwüstungen wie in den Anfangsjahren der Beatles und der Stones vorbei, aber zu Gewalt kommt es auch heute noch immer wieder. Beim "Sacre" konnte der Veranstalter die Gemüter durch Einschalten der Saalbeleuchtung wieder beruhigen; ausgeflippte Zuhörer eines Rock- oder Rapkonzerts würde das kaum beeindrucken.

New York Times, 7. 6. 2013 (Bild: See page for author [Public domain], via Wikimedia)

War es die Musik?

Strawinskys vorangegangene Ballette "L‘Oiseau de Feu" (1910) und "Pétrouchka" (1911) sind, ebenfalls in Paris, positiv aufgenommen worden. Im ersten gibt es einen "infernalischen Tanz", der den Zuhörern auch Einiges zumutet. Überdies waren konzertante Aufführungen des "Sacre" wenig später ein Erfolg. Zwar berichtete Strawinsky, dass schon "bei den ersten Takten des Vorspiels sogleich Gelächter und spöttische Zurufe erschallten", doch hier ist die Musik, die mit einem hohen Fagottsolo beginnt, zu dem sich dann die Hörner gesellen, alle andere als aggressiv.

 

Noch vor der Uraufführung hatte Adolphe Boschot unter dem Eindruck der Generalprobe im Écho de Paris die Frage gestellt, ob das Publikum wohl begreifen werde, dass man es verspotte: "Man präsentiert uns […] Tänze der Wilden, der Karibik, der Kanaken." Das musste der Premierenbesucher geradezu als Herausforderung verstehen, und es erklärt Cocteaus Aussage, das Publikum habe "die Rolle, die ihm zugedacht war" gespielt. Bezeichnenderweise ist in der Premierenkritik von Alfred Capus im Figaro von der Musik oder dem Komponisten überhaupt keine Rede. Capus bescheinigt den russischen Tänzern und dem Choreograph Vačlav Nijinsky zwar (ironisch?) eine "seltene Meisterschaft", aber auch eine "vorzeitliche Grausamkeit", mit der das Maß überschritten worden sei.

 

Sacre du printemps (Ballets russes, Opéra) (Bild: dalbera / Flickr)

Choreographie, Bühnenbild und Kostüme wurden 1987 rekonstruiert und 2013, zum hundertjährigen Jubiläum, nochmals am Ort der Uraufführung auf die Bühne gebracht. Man kann sich gut vorstellen, dass die repetitiven, geradezu plumpen, mehr an Indianertänze als an klassisches Ballett erinnernden Bewegungen und die bäurischen Gewänder die Theaterbesucher in ihren ästhetischen Ansprüchen verletzt haben.

Trotzdem hält sich das Vorurteil, die Musik sei für die Proteste bei der Uraufführung verantwortlich gewesen. Der Komponist hat sicherlich an den Grenzen des "Klassischen" gerüttelt; aber wer meint, die komplexe Partitur des "Sacre" mit dem aggressiven Lärm und Gestampfe von Pop- oder Rockmusik gleichsetzen zu müssen, befindet sich im Irrtum.

Wo sind heute die Skandale?

Skandale, sei es wegen der Musik, der Choreographie oder der Inszenierung, gibt es praktisch nicht mehr. Ströme von (Kunst-)Blut, Nacktheit, Verrichten der Notdurft, Kopulation – alles schon dagewesen. Waren die Menschen vor 105 Jahren zu empfindlich? Vielleicht ist eher dem heutigen Publikum der Vorwurf zu machen, dass es sich zu viel bieten lässt, Sensibilität und Kritikfähigkeit verloren hat. Zwar hat die regietheaterkritische Facebook-Gruppe "Against Modern Opera Productions" über 46.000 "Gefällt mir"-Angaben, doch diese Leute ahnen, was sie zu erwarten haben, und bleiben eben zuhause. Eigentlich schade, denn Gründe für einen Skandal gibt es heute weit mehr als damals.

Klaus_Miehling, am 05.12.2017
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Bildquelle:
Marco Schauz (Alles über Flamenco)

Autor seit 14 Jahren
11 Seiten
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