Ernst schaut er auf das geschäftige Treiben, die westliche Dekadenz und den blühenden Kapitalismus herab. So richtig scheint die Riesenbüste des sozialistischen Vordenkers Karl Marx nicht in das Chemnitzer Zentrum zu passen: In unmittelbarer Nähe befinden sich Zeitarbeitsfirmen, Boutiquen, ein Sex-Shop sowie eine Diskothek. Also alles Einrichtungen, die sich mit dem Marx'schen Weltbild vom regierenden Proletariat nicht so recht vereinbaren lassen. Wie kam es zu dieser paradoxen Konstellation?

Das Chemnitzer Marx-Denkmal mit dem mehrsprachigen Zitat im Hintergrund

Karl Marx und die Stadt Chemnitz

Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat Karl Marx die sächsische Industriemetropole nie besucht. Gerüchteweise soll er aber einmal in einem Zug gesessen haben, der in Chemnitz Station machte. Dennoch wurde im Verlauf des ostdeutschen "Karl-Marx-Jahres" 1953 aus Chemnitz Karl-Marx-Stadt. Diese Umbenennung ganzer Ortschaften in der DDR war keineswegs ungewöhnlich. Es gab zeitweise sogar eine Stalinstadt, eine Wilhelm-Pieck-Stadt Guben und derlei Irrsinn mehr. Begründet wurde der neue Stadtname damit, dass Chemnitz eine lange Tradition als Zentrum der sozialistischen Arbeiterbewegung aufwies, was sogar stimmte. Die Chemnitzer arrangierten sich übrigens vergleichsweise problemlos mit dem sperrigen Namen: Auf gut Sächsisch heißt "Chemnitz" schlichtweg "Kems". Die Abkürzung des neuen Städtenamens (K.-M.-St.) lautete demnach "Kamst". Die nuschelnde Aussprache der Sachsen machte da nicht viel Unterschiede...  

Die Errichtung des Marx-Denkmals

Doch der DDR-Führung reichte dieser seltsame Personenkult noch nicht. Im Jahr 1971 entstand deshalb eine riesige Marx-Plastik. Natürlich wurde damit ein Künstler der sowjetischen Führungsmacht beauftragt. Es war der Ukrainer Lew Kerbel, der den DDR-Oberen insgesamt zehn Entwürfe vorlegte. Man entschied sich für die einzige Variante, die nur den Kopf von Karl Marx zeigte. In einer Leningrader Kunstgießerei wurde daraufhin der endgültige Bronzeguss angefertigt. In 95 Teile zerlegt, transportierte man ihn in die DDR, wo die Plastik zusammengesetzt wurde. Auf zwei großen, mit Granitplatten verkleideten Sockeln thronte nun fast fünf Meter über dem Erdboden der 7,10 Meter hohe Marx-Kopf. Seine feierliche Einweihung erfolgte am 9. Oktober 1971. Hinter dem Monument erhoben sich seelenlose Behördengebäude aus Beton. Ihre Fassade trug riesige Steintafeln, auf denen in mehreren Sprachen die berühmte Losung "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" zu lesen war.  Die an der Vorderseite der Skulptur liegende Straße hieß fortan Karl-Marx-Allee. Die Bevölkerung versuchte sich allerdings selbst in kreativer Namensfindung und taufte den Marx-Kopf kurzerhand "Nischel", ein umgangssprachliches Wort für "Kopf". Die Karl-Marx-Allee wiederum mutierte auf diese Weise respektlos zur Nischel- bzw. Schädelgasse. 

Der Marx-Kopf nach dem Ende der DDR

Traurige Zeiten brachen für das sozialistische Kultobjekt allerdings im Zuge der politischen Wende an. Noch vor dem offiziellen Ende der DDR hieß Karl-Marx-Stadt wieder Chemnitz. Aus der Karl-Marx-Allee wurde die Brückenstraße, und in die hinter dem Monument liegenden Behördengebäude zog ausgerechnet das Arbeitsamt (!) ein. Respektlose Graffitti-Helden  zweckentfremdeten den Denkmalsockel, Skateboarder nutzen das umliegende Areal. Doch die riesige Skulptur selbst überstand die Wendezeit. Eine emotionale Debatte um die Abschaffung des von manchen als schändlich empfundenen Kultobjekts rückte zwar zeitweise einen Abriss oder den Verkauf in greifbare Nähe. Doch letztendlich blieb der Kopf an seinem angestammten Platz. Die Chemnitzer Stadtväter begriffen das einmalige Monument als Lockmittel für Touristen und Investoren. "Stadt mit Köpfchen" lautete lange Jahre ein Werbeslogan, der mit Merchandising-Produkten in Form kleiner Marx-Köpfe untermauert wurde. So diente die Büste des großen Kapitalismus-Gegners schließlich dazu, die von ihm kritisierte Marktwirtschaft möglichst anzukurbeln.

Im Jahr 2008 wurde das Monument für einige Zeit im Rahmen einer Kunstaktion verhüllt. Ein Bild mit Symbolcharakter: Vielleicht war es Marx ja ganz recht, dass er das kapitalistische Treiben ringsum wenigstens eine Zeit lang nicht mehr sehen musste...

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