Der Zar will den rundlich gedrungenen Geistlichen wegräumen
Rasputin(Michael Schweighöfer) haust in einer mit Heiligenbildern vollgestopften Kammer, in einer Unterkunft, die sich vorzüglich zum systematischen Drangsalieren von Strafgefangenen eignet. Seine gesamte Existenz ist wie in scharfen Weihrauchgeruch eingehüllt, und ausgerechnet dieser monströse Jesusfanatiker ist es, bei dem sich die Zarin (Katharina Marie Schubert) in eine psychische Abhängigkeit hineinkatapultiert hat. Immerhin, ihm eilt ein großer Ruf voraus und er fühlt sich dazu berufen, dem von der Bluterkrankheit befallenen Zarensohn zu kurieren. Unerträglich ist das aufdringliche Auftauchen Rasputins für den Zar Nikolai II, der den rundlich gedrungenen Geistlichen am liebsten wegräumen möchte. Der Zar, zwischen überbordendem Familiensinn, Zaghaftigkeit und Rigorosität hin- und herpendelnd, wird von Jörg Pose gespielt, und der spricht, wie man sich einen von Intellektualismus angewehten Gutsbesitzer vorstellt. Die Worte gleiten fein, flüssig, und ohne Schwere über die Lippen, als habe er einen akademischen Anspruch, ohne sein Umfeld mit Fremdwörtern zu überfordern. Außerstande, seiner Stimme etwas Druck zu verleihen, scheint es seiner Kehle zuweilen an der nötigen Kraft zu gebrechen. Trotz eines scheinbaren Feinsinns erweckt der Zar mitunter den Eindruck von Überforderung und partieller Tumbheit, als sei ein Gehirnareal vorübergehend ausgefallen.

 

Deutsches Theater, Kammerspiele
Wallfahrt zum Familiendiplom
Auch Szenen einer behaglichen Familienatmosphäre werden präsentiert, es wird ein Gruppenphoto geschossen, einmal betastet die Gattin den Zaren spielerisch am Oberkörper, ein andermal klettert sie auf sein Bett und zupft ihn wie eine frisch Verliebte neckisch am Bart. Ein Rückzug ins Private als Flucht vor den Wirrungen der Innen- und Außenpolitik. Die wird nur am Rande erwähnt, beispielsweise der verlustreiche Krieg gegen Japan im Jahr 1905. Kleine Einwürfe zur Komplettierung der Daten, damit der Zuschauer nicht die Orientierung verliert und weiß, in welcher Zeit man sich gerade befindet. Es gelingt den Regisseuren zu keiner Zeit, eine Einbindung der Politik, des Weltgeschehens herzustellen – das war wohl auch nicht ihre Absicht. Stattdessen unternehmen  sie eine Wallfahrt zum Familiendiplom. Katharina Marie Schubert ist nicht gerade die Inkarnation des russischen Lebens, sie trägt mit ihren künstlich gewellten Haaren eine Art US-Frisur aus den fünfziger Jahren. Insgesamt wird viel präsentiert, vom Weltgeschehen, von der vorrevolutionären Phase erfährt man allerdings wenig: es wird nichts richtig aufgezeigt oder gar gedeutet.


Vergnügungssüchtige Kamarilla
Jürgen Kuttner spielt seine Bühnenrollen solide, doch nichts ist zu sehen vom Esprit und der Originalität der vergangenen Jahre. Die vergnügungslustige Kamarilla, die den Zaren umgibt, mag viele Reisen in Russland unternehmen, vor den Reisen durch die Leiber der Frauen sind die Regisseure aber zurückgeschreckt. Das wäre wohl zu viel des Guten gewesen, hätte aber dem müden Getriebe etwas Schwung verliehen. Die Zuschauer sehen Daniel Hoevels als Fürst, wie er seine Stiefel auf dem Tisch genießerisch ausbreitet, daneben der extrem coole Großfürst Pawlowitsch von Moritz Grove mit Pelzbesatz an der Jacke, Zigarre rauchend und exzessiv trinkend. Die Ermordung Rasputins mit Zyankali wird geplant, der Arzt (Jürgen Kuttner) vergiftet das Rasputin vorgesetzte Obst. Er isst und isst, will aber nicht sterben, die Wunderkräfte des Predigers tun ihr Werk. Die Beseitigung des Widerspenstigen zieht sich endlos hin, bis endlich ein Schuss die Erlösung bringt. Ein gar schwierig Ding, solch ein Mord – die Regisseure haben die Szene geradezu uferlos gestreckt. Michael Schweighöfers Rasputin, klebrig, ebenso charismatisch wie herrisch, muss seinen Platz für immer räumen. Seine Worte, wie sie dröhnen, donnern und herausprasseln! Ein Wanderprediger mit Machtansprüchen, ein Lichtblick, der leider das Projekt nicht retten, nur verbessern kann. Positiv sind teilweise auch die auf der Drehbühne gezeigten Räume und atmosphärisch dichte Schneeszenen, wenn etwa Nikolai II. mit seinem Premierminister durch eine Winterlandschaft stapft. Da es nun einmal um das Gesamte der Inszenierung geht, sind die guten Einsprengsel zu wenig. Schade. Die Regisseure wollten wohl zeigen, dass solch ein Herrscherclub zwangsläufig dem Untergang geweiht ist. Es ist ihnen, wenn überhaupt, nur halb gelungen.


Agonie
Ein zaristisches Lehrstück über die letzten Tage der Romanows.
Ein Projekt von Tom Kühnel und Jürgen Kuttner


Regie: Tom Kühnel, Jürgen Kuttner, Dramaturgie: Claus Caesar, Bühne: Jo Schramm, Kostüme: Daniela Selig, Musik: Markus Hübner.


Mit: Michael Schweighöfer, Jürgen Kuttner, Jörg Pose, Katharina Marie Schubert, Moritz Grove, Daniel Hoevels, Helmut Mooshammer, Natalie Seelig, Lina Bookhagen, Mila Lausch, Helena Lengers, Collien Noack, Carla Paulus, Delphine Pinkowski, Karolin Wiegers.


Deutsches Theater Berlin, Kammerspiele
Premiere am 1. September 2013, Kritik vom 2. September 2013
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause.

Bildnachweis: © Steffen Kassel

 
 


 

 

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