Ein Fest der Melancholie

Es ist eine Inszenierung über das Leben mit dem Tod, über den Tod im Leben und über die Trauer durch den Tod. David Grossmans 20-jähriger Sohn Nuri ist im Krieg "gefallen", und dieses erschütternde Negativerlebnis versuchte er in seinem Werk dichterisch zu bearbeiten. Deshalb ist das Kind des Mannes "aus der Zeit gefallen". Folgendermaßen lässt sich Matthias Neukirch vernehmen: "(Du) bist eine Gestalt, allein am Bahnsteig in einer Nacht, deren Schwarz bis zum letzten Tropfen ausgelaufen ist. Ich sehe dich, berühr dich aber nicht." Es finden sich einige Menschen, die das gleiche oder ein ähnliches Schicksal erdulden müssen. Sie finden jedoch nicht zusammen, es bildet sich kein Zusammengehörigkeitsgefühl, keine Trauergemeinschaft. In der Niedergeschlagenheit ist der Mensch zutiefst allein, zu einem gegenseitigen Ausheulen aus Selbsterleichterungsgründen kommt es nicht. Die Personen monologisieren lieber oder sprechen direkt mit den Erloschenen. Ein Fest der Melancholie, ganz ohne Palliativ.

 

Stimmt's oder hab ich recht?

Wer zu Kriegenburg geht, weiß, was ihn erwartet: Eine mächtige Bilderwelt. Wenn einem auch der Inhalt nicht nahegeht, so ist es die Sektion Bilder & Dekoration, die seinen Inszenierungen ein assoziatives Gepräge verleiht. Diesmal sehen wir Jörg Pose als Zentaur, der mit seinem Schreibtisch verwachsen ist und in einer mit Netzgeflecht überzogenen Zelle hockt, an der Spielzeug klebt. Man braucht nicht hinzusehen, man erkennt Pose sofort am Farbklang seiner Stimme, die auch mal diktatorisch ausruft: "Stimmt's oder hab ich recht?" Neben ihm agiert ein Chronist (Bernd Moss), der im Auftrag eines nebulösen Herzogs (Daniel Hoevels) alles aufschreibt, was um ihn herum passiert. Er kann "in die Hölle anderer Leute linsen, ohne dort auch nur einen kleinen bleichen Finger reinstecken zu müssen". Die Personen sitzen teilweise in Kästen oder Würfeln, die mit Folie umspannt sind. Sie sind Gefangene im Netz ihres bleiernen Schicksals. Schöne Bilder, wie gesagt, doch der magische Reiz geht schnell verloren und weicht der Gewohnheit. Und die wiederum macht der Langeweile Platz. Ähnlich muss es Katrin Klein ergehen, die endlos und völlig isoliert auf einer Glocke steht.

 

Das Fehlen eines Zeitmanagers

Szenen, für die viele Regisseure nur fünf Minuten brauchen, dauern bei Kriegenburg 20 Minuten oder länger. Er reizt die Sequenzen bis zur Übersättigung aus. Kriegenburg wäre nicht schlecht beraten, wenn man ihm einen Zeitmanager an die Seite stellen würde. Er liefert zwar keine Einschlaf-Garantie, aber ein sanftes Dösen kommt jederzeit in Betracht. Die umherwandelnden Figuren, an deren Spitze der wackere, das gesamte Personal um eine Kopflänge überragende Neukirch steht, fühlen sich nackt in ihrer suchenden Hilflosigkeit. Deshalb laufen die Akteure gegen Ende des Stückes auch nackt herum und zeigen eine Po-Parade. Kein origineller Einfall, genauso wie das Schaufeln der eigenen Gräber, in die sich die Leidenden dann hineinlegen, um ein tragisches Element hinzuzusetzen. Was sie alle wollen: Die Grenze nach drüben überschreiten. An der Grenzlinie angekommen, spüren sie die Fülle des Lebens. Als könne man durch das Leiden das Leben tiefer erfahren und näher bei sich selbst sein. Sicherlich enthält die Inszenierung einige gute bis passable Passagen, aber die reichen nicht aus, um etwas Großes zu schaffen. Kriegenburg durchläuft mittlerweile eine kleine Schaffenskrise, wie auch die DT-Premieren dieser Spielzeit meilenweit von einer Einladung zum Theatertreffen entfernt sind. Immerhin, dies ist seine vorläufig letzte Arbeit am Deutschen Theater und er hat einige recht gelungene Aufführungen hingelegt (z.B. Herz der Finsternis, Winterreise). Nun kann man mit Recht sagen: Abschied nicht ohne leise Melancholie.

Aus der Zeit fallen
von David Grossman

Übersetzung von Anne Birkenhauer
Regie: Andreas Kriegenburg, Bühne: Olga Ventosa Quintana, Kostüme: Andrea Schraad, Dramaturgie: Juliane Koepp, Licht: Cornelia Gloth.
Mit: Jörg Pose, Matthias Neukirch, Katrin Klein, Markwart Müller-Elmau, Bernd Moss, Natali Seelig, Janina Sachau, Barbara Heynen, Daniel Hoevels, Jürgen Huth.

Deutsches Theater Berlin

Uraufführung am 13. Dezember 2013, Kritik vom 14. Dezember 2013

Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause

Foto 1: David Grossman © Hans Weingartz/Wikipedia

Foto 2: © Steffen Kassel

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