Der Schriftsteller Alfred Döblin

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Vielleicht zucken (Geistes-)Blitze durchs Gehirn

Zu Hartmanns Visionen gehören auch eine Menge religiöser Ausflüge. Wieder in die Freiheit entlassen, landet der verwirrte Biberkopf bei zwei Juden. Diese Buchvorlage nimmt Hartmann zum Anlass, sich ausführlich über eine Judengeschichte, über Hiob, Abraham und Isaak auszulassen. Die Geschichte mit Abraham, der auf Gottes Geheiß seinen Sohn Isaak opfern soll, wird sogar auf der Bühne nachgestellt. Nicht nur das Alte Testament hat es dem Regisseur angetan: Auch das Neue Testament ist kraftvoll vertreten. Benjamin Lillie, für den vermutlich Kleider auf der Bühne äußerst lästige Störfaktoren sind, verkörpert den Leidensweg Jesu und hängt nackt am Kreuz. Gelegentlich ertönt dazu donnernde, bombastische Orchestermusik, die das Ganze ins erhaben Dramatische steigern soll. Beinahe stellt man sich dabei schillernde Himmelsfunken und Blitze vor. Wenn derartige Szenen nicht so spröde daherkämen. Die gewollte, missratene Getragenheit und die Überladung mit religiösen Motiven sind dem Abend nicht gerade förderlich. Immerhin hat sich Hartmann zur Schlachthof-Passage durchgerungen, er zeigt die Szenerie in Comic-Bildern wie bei einem Animationsfilm. Berlin: Die Turbulenzen eines ekstatischen Lebens. Aber auch ein Schlachthof für jene Randexistenzen, die vergeblich versuchen Fuß zu fassen. Unter den experimentierfreudigen Händen von Hartmann wirkt so manches doch etwas gedrosselt, ja gebändigt. Als habe Hartmann schon Wochen vor der Premiere gewusst, dass Bundesfinanzminister Schäuble anwesend sein wird.

 

Der Frauenverbrauch ist immens

Hartmann benutzt einige Figuren geradezu; wenn sie ihren Zweck erfüllt haben und er sie nicht mehr braucht, schmeißt er sie einfach weg. Bestes Beispiel ist der Stotterer Reinhold (Edgar Eckert). Reinhold gehört zur kriminellen Pums-Bande, die hier komplett unter den Tisch fällt, und hat die Angewohnheit, die vom ihm verbrauchten, in Abständen verprügelten Frauen an Freunde weiterzureichen. So geschieht es auch mit Minna oder Mieze (die Namen sind bei Hartmann austauschbar), die an den an Leidenschaftsstau kränkelnden Biberkopf (Andreas Döhler) übergeben wird. Dem stürzen in Gedanken die Dächer auf den Kopf, in Anlehnung an Hoddis' Gedicht Weltende. Bedauerlicherweise will Reinhold die gute Weggegebene später wieder zurückhaben. Es entstehen einige schön und wild dargestellte Szenen mit Döhler und Katrin Wichmann, welch Letztere in einen Metallsarg gesperrt und dann von hinten genommen wird.

 

Sterile Atmosphäre trotz Erotik

Döhler mit seiner Berliner Underdog-Schnauze ist der personelle Höhepunkt des Abends. Schnoddrig ist er, leicht schmierig, eben Milieu mit Aussicht auf kommende Fleischtöpfe. Am Ende, als Biberkopf dem Wahn verfällt, spielt Döhler den Weinerlichen, emotional Gebrochenen. Der personifizierte Tod (die viel zu laute Almut Zilcher) und Engel treffen ein, die da die nicht ganz neue Information verkünden, dass der Tod zum Leben gehört. Nach der reaktionären Wacht am Rhein, Bodenständigkeit und Patriotismus verkündend, kommen die Schattenbilder und Phantasmagorien des in metaphysischen Angelegenheiten unverwüstlichen Regisseurs. Und dabei sind Biberkopf und die anderen Gestalten für die Transzendenz gänzlich unempfänglich. Der ehemalige Sträfling versteht sich mehr aufs Fleischliche und kümmert sich nicht um Ästhetik. Zunächst machen das Döhler und Wichmann, später Felix Goeser und Wiebke Mollenhauer. Letztere bringt das von unendlicher Sehnsucht erfüllte zärtliche bis aggressive Aneinanderreiben der Körper hervorragend rüber. Eine Figur, die beim Lesen von Döblins Werk sogleich in Gedanken aufsteigt. Ein Erotik-Hammer ist diese Inszenierung dennoch nicht, dafür ist sie zu aseptisch. Hartmann unternimmt nicht einmal annähernd den Versuch, Biberkopfs assoziationsreichen Bewusstseinsstrom adäquat auf die Bühne zu bringen: Durch Nichtinszenierung wird ein Scheitern verhindert. Trotz aller Bemühungen, Lokalkolorit und Milieu auf die Bühne zu transportieren, interessiert sich Hartmann mehr fürs uneinsehbare Geschick, für göttliche und apokalyptische Phänome. Die Ensembleleistungen sind groß – doch das ist im Deutschen Theater quasi Voraussetzung. Hartmann verzettelt sich oft und zeigt eine seiner schwächeren Darbietungen.

Berlin Alexanderplatz
nach dem Roman von Alfred Döblin.

Fassung von Sebastian Hartmann, Meike Schmitz und dem Ensemble
Regie und Bühne: Sebastian Hartmann, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Lichtdesign und Videogestaltung: Voxi Bärenklau, Videoanimation: Tilo Baumgärtel, Musik: Sebastian Hartmann, Dramaturgie: Sonja Anders, Meike Schmitz, Künstlerische Leitung Chor: Christine Groß.
Mit: Andreas Döhler, Wiebke Mollenhauer, Markwart Müller-Elmau,, Christoph Franken, Michael Gerber, Almut Zilcher, Felix Goeser, Gabriele Heinz, Benjamin Lillie, Edgar Eckert, Katrin Wichmann, Moritz Grove.

Deutsches Theater Berlin

Premiere vom 11. Mai 2016
Dauer: 210 Minuten, zwei Pausen


 

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