Inszenierungsplakat: Jörg Pose

 

Technischer Fortschritt und geistiger Rückschritt

Der erste Baustein heißt "Utopie", die weiteren Komplexe sind "Phantasie", "Instinkt", "Sorge" und "Liebe und Tod". Es beginnt mit Jörg Pose, der aufgrund seiner Verkleidung, goldfarbener Glitzeranzug, Nerdbrille und weißer Zylinder, nur durch seinen speziellen Tonfall zu erkennen ist. Über ihm schwebt ein Globus, der wohl für globales Denken und Wissenschaftsgläubigkeit steht. Im Jahr 1966 war die Hoffnung auf die Zukunft groß, man glaubte an technischen Fortschritt und an die Monderoberung. Die Schauspieler*innen reden über die Mondlandung, ohne den ersten russischen Weltraumhelden Yuri Gagarin zu erwähnen, reden von Robotern, Strom auf dem Mond, Sozialdarwinismus und, typisch für die Warschauer-Pakt-Staaten, den Neuen Menschen. Das Niveau flacht merklich ab, als die Schauspieler*innen (Wiebke Mollenhauer, Christoph Franken, Linn Reusse, Benjamin Lillie) sich wie Kinder gebären, Styropor essen und Blödsinn aneinanderschwätzen. Der Figur von Christoph Franken, in einen dunkelgrünen Anorak gehüllt, wird unter anderem vorgeworfen, in die Hose gepinkelt zu haben, dann ist auch von herausprasselnder Kacke die Rede. Das ist freilich nur ein Beispiel, aber von derartigen Textstellen, die ein einziges Ärgernis sind, gibt es nicht wenige. Kurz, Kater/Petras hat einfach zu viel gewollt, ihm gebricht es zuweilen an Selbstkontrolle, neben Großartigem steht Krampf, neben schön bebilderten Szenen lauert etwas fatal Danebengeratenes. Auf irisierende, bunt schillernde Juwelen folgt schon der nächste Misthaufen.

 

Eine verwilderter Garten mit nicht wenigen Reizen

Der Regisseur Köhler bemüht sich nach Kräften, aber vielleicht hätte es Petras auch in Berlin besser selbst gemacht. Trotzdem gibt es durchaus Beglückendes: Jörg Pose liefert in gelbschwarzer Pyjamahose eine veritable Performance, beschriftet eine Leinwand – zuerst H2O und dann, natürlich, CO2 -, bis er sie wahllos beschmiert wie beim Drip- oder Action-Painting. Christoph Franken tritt in einer Szene als Clown mit Matthias Reichwald auf, dann etwas entspannter mit Linn Reusse. Clownerien, Ekstase, Elefantensex und Happening! Dazu Wiebke Mollenhauer in einem weißen Brautkleid mit Matthias Reichwald und einem – falschen – (Kind-)Hasen. Eine Darstellung, teilweise von seelischer Anspannung und entzückender Leichtigkeit getragen. Überhaupt Wiebke Mollenhauer: Sie gehört schon seit einiger Zeit zum DT-Ensemble, fällt jedoch zum ersten Mal richtig auf, da sie zum ersten Mal ihre Kräfte konzentriert, aus ihrem Begabungsreservoir schöpft und groß aufdreht. Doch die durch Musik untermalten starken Happening-Phasen können die Schattenrisse nicht übertünchen. Armin Petras steht sich insofern im Weg als er zu viel auf einmal will und einen verwilderten Garten hinlegt, der mit nicht wenigen Reizen aufwarten kann. Er changiert, um es überspitzt auszudrücken, zwischen Weltklasse und unterer Amateurliga. Entsprechend gemischt sind die Gefühle.

Buch. Berlin (5 Ingredientes de la Vida)

von Fritz Kater

Regie: Tilmann Köhler, Bühne: Nicole Timm, Kostüme: Susanne Uhl, Musik: Jörg-Martin Wagner, Licht: Thomas Langguth, Dramaturgie: Sonja Anders.

Es spielen: Wiebke Mollenhauer, Christoph Franken, Linn Reusse, Benjamin Lillie, Matthias Reichwald.

Deutsches Theater Berlin, Premiere vom 24. September 2016

Dauer: ca. 3 Stunden, eine Pause

 

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