Aufführungsplakat

© Steffen Kassel

 

Der Selbstausdruck ist wichtiger als Liebe

Die Geschichte vom parvenühaften Journalisten Clavigo, der aus Zeit- und Karrieregründen seine Geliebte Marie in die Wüste schickt und dadurch einem Rachfeldzug ihres Bruders Beaumarchais ausgesetzt ist, lebt auch bei Kimmig fort. Der hält offensichtlich wenig vom angestaubten Stück, noch weniger von einer werktreuen Nacherzählung und erachtete den Augenblick für gekommen, Goethes stürmisches Frühwerk wie eine Ruine abzureißen und in seine Bruchstücke zu zerlegen. So wirkt das Ergebnis denn auch: Wie ein Aneinanderkleistern von episodenhaften Einfällen, die einem nicht immer fließenden Ideenfundus entsprungen sind. Der vorgenommene Rollentausch ( Frauen spielen Männerrollen und umgekehrt) ist dabei nicht das schlechteste, denn Frauen haben sich längst der virilen Überlebensstrategien und versteckten Bosheiten bemächtigt und ihre "Vorbilder" zum Teil überboten. Susanne Wolff, der eine unmögliche Perücke übergestülpt wurde, spielt den Clavigo wie einen Künstler, der um Selbstausdruck bemüht ist und dabei keine menschlichen oder sonstigen Barrieren duldet. Zwischen Verzagen und Aufbrausen oszillierend versucht sie sich ihren beschwerlichen Weg freizuschaufeln. Ausgerechnet der Hüne Marcel Kohler spielt jene Marie, die man sich eigentlich zart und zerbrechlich vorstellt. Gnadenloser kann man den damaligen Kostümstil nicht konterkarieren: Koller trägt ein ärmelloses T-Shirt und eine schwarzweiß gestreifte Hose, die Anfang der achtziger Jahre im Zuge der New-Wave-Bewegung von England nach Deutschland gespült wurde. Eine Art Iggy Pop der 70er-Jahre, nur etwas behäbiger und mit erweiterten Pupillen, als habe er fünf Drogen auf einmal eingeworfen.

 

Ein Maskenball der Stile

Lediglich Moritz Grove als Carlos bleibt unverwandelt, behält den Überblick und wirkt wie ein leicht infernalischer, aber halbwegs souveräner Beobachter. Wahrscheinlich hat sich Kimmig Daniela Löffners Inszenierung "Die lächerliche Finsternis" angesehen, und er sah, dass es gut war, zumindest was Kathleen Morgeneyers chamäleonartige Wandlungsfähigkeit anbelangt. Auch in "Clavigo" übernimmt sie einige komische Rollen, etwa wenn sie, ausgestattet mit Bockwurst-Hotpants, einen Hanswurst spielt. Die Haut wird zu einem Stück Fleisch degradiert, appetitlich ist bei diesem Anblick leider gar nichts. Ansonsten viel Leinwandaufnahmen und wechselnde, sinnentleerte Kostüme, einer Materialschlacht vergleichbar. Es sind keine zeittypischen Verkleidungen, die das Herz eines Daniel Kehlmann, der Opas Werktreue rigoros einfordert, höher schlagen lässt. Insgesamt ein Maskenball der Stile, etwas künstlich Zusammengesetztes, das mit bizarren, überdrehten Splitterangeboten aufwartet. Dass der Original-Goethe reduziert wird, schadet angesichts der literarischen Gehalts nicht einmal. Nur hat sich beim intendierten Entstaubungsprozess zu viel Trash angelagert. Der Abend ist etwas aus der Form geraten. In Normalform präsentiert sich allerdings Susanne Wolff, und ihre Normalform lag schon immer weit über dem Durchschnitt. Man kann nicht gerade behaupten, dass Kimmig die Sehgewohnheiten im Theater durchkreuzt. Im Grunde macht er nur das, was einige seiner experimentierfreudigen Kollegen seit Jahren mit Feuereifer tun, leider ohne künstlerischen Mehrwert zu erzielen. Kein Grund zum Ärgern also – man kann den Abend auch mit einem Gefühl der Entspannung verlassen.

Clavigo
nach Johann Wolfgang Goethe
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Eva-Maria Bauer, Kostüme: Johanna Pfau, Musik: Pollyester, Video: Julian Krubasik, Lambert Strehlke, Dramaturgie: Sonja Anders.
Mit: Susanne Wolff, Kathleen Morgeneyer, Franziska Machens, Moritz Grove, Marcel Kohler.
Deutsches Theater Berlin

Berlin-Premiere war am 13. November 2015

Dauer: 90 Minuten

 

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