Ullrich Matthes, Franziska Machens

© Arno Declair

 

Individualismus gegen Heuchelei

Die Bühne (Florian Lösche) ist ein anthrazitfarbener Kasten, dessen Dekoration allein aus einer Vielzahl von Seilen besteht. Doch was wie eine verpackende Innenausstattung aussieht, erweist sich als Spielmaterial für sportive Übungen und akrobatische Einlagen. An den und zwischen den äußerst dehnbaren Seilen kann man Turnübungen und etliche Verrenkungen machen, so dass auch gespielt und nicht nur rezitiert wird. Hier verbreitet Ulrich Matthes als Alceste seine fragwürdige Weltsicht, die gänzlich ohne verlogene Etikette auskommt. Einmal deklamiert Oronte ein – miserables – Gedicht und erwartet von Alceste ein überschwängliches Kompliment, wie es am Hof üblich ist. Doch der denkt nicht daran und zerreißt das Machwerk – so gewinnt Alceste natürlich keine Freunde, ein Wunder, das er noch halbwegs gelitten wird. Sein Kompagnon Philinte (Manuel Harder) versteht sich als Lebensberater und möchte aus dem Menschenfeind einen Edelmann formen – vergeblich. Inmitten der Austauschbarkeit der höfischen Gestalten bietet Alceste allein seine Ehrlichkeit und seinen Individualismus an, mit denen er sich weit über den anderen glaubt, und zudem hat er bei Célimène (Franziska Machens) gewaltige Besitzansprüche, als gehöre sie nur ihm allein. Ein Egomane und Egoist in Reinkultur, aber alles andere als ein Egotist.

 

Schier unerschöpfliche Koketterie

Frauen, die seinem Weltbild eher entsprächen – die naiv-reine Éliante (Lisa Hrdina) und die weltererfahrene, reife, patente Arsinoé (Judith Hofmann) – lehnt er rundweg ab, nicht einmal als Surrogat kann er sie gebrauchen. Und für Célimène, der es nicht einmal nach libidinöser Saturation verlangt, sind die Männer durchweg Spielmaterial für ihre schier unerschöpfliche Koketterie, der es in grenzenloser Gier ständig nach neuem Futter verlangt. Gegen Ende platzt eine Art Miniaturbombe: Durch einen Brief erfahren die Verehrer, was Célimène in Wahrheit von ihnen hält – nämlich nichts. Sie waren nichts anderes als Zerstreuungsfaktoren im lebenshungrigen höfischen Treiben, ein kleines Lebenselixier. Der Stümper-Dichter Orente reagiert auf seine Weise: Nein, er möchte sich nicht an ihr rächen, sein erkaltetes Herz sei Revanche genug. Diese und ähnliche Sätze enthalten einen hohen Grad an Komik, wie überhaupt die Inszenierung angefüllt ist mit zielsicherem Humor. Der Abend ist antiquiert und doch gleichzeitig modern, das mag an seiner Zeitlosigkeit liegen. Verwunderlich nur, dass Alceste, der so viel durchschaut, nicht die Sachlage überblickt, wahrscheinlich ist der vom Geschlechtstrieb umnebelte männliche Intellekt überfordert. Anne Lenk hat einmal mehr bewiesen, dass sie eine grandiose Regisseurin ist.

 

Der Menschenfeind
von Molière
Übersetzung von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens
Regie: Anne Lenk, Bühne: Florian Lösche, Kostüme: Sibylle Wallum, Musik: Camill Jammal, Dramaturgie: Sonja Anders.
Mit: Ulrich Matthes, Judith Hofmann, Elias Arens, Manuel Harder, Franziska Machens, Timo Weisschnur, Jeremy Mockridge, Lisa Hrdina.
Deutsches Theater Berlin, Premiere vom 29. März 2019
Dauer: 90 Minuten, keine Pause

 

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