Ein zusammengeschmolzenes Kollektiv

Die Flüchtlinge wandeln aber nicht im Sigmund-Freud-Park daher, sondern hocken in einem von Olaf Altmann entworfenen, nach hinten abfallenden Kasten, der auch ein Schiff sein könnte, schließlich ist das christliche Abendland das Ziel. Ausgerechnet ein großes Kreuz, erhaben und leuchtend, ist der einzige Einlass. Das Kreuz ist eine Leerstelle, durch die sich das 16-köpfige Ensemble hindurchzwängt, um dann sogleich knietief im Wasser zu versinken. Die Gestrandeten, Masken aus bunten Plastikmüllresten tragend, suchen ihre Balance, zappeln sich frei, erheben endlich ihre Stimme und arrangieren eine richtig mythische Atmosphäre. Während das Stilmittel der alten griechischen Tragödie aufklingt, geht es um höchst profane Dinge der zu optimierenden Daseinsfristung, um die Erreichung eines legalen Status. Es hagelt Anklagen und Vorwürfe, die Überlebenskämpfer halten eine Predigt, aber nur die Anderen sind zu einer Sprachpredigt ermächtigt. Elfriede Jelinek behandelt den zusammengeworfenen Haufen wie ein zusammengeschmolzenes Kollektiv, das in harmonischem Einklang seine Wutrede herausstößt. Der Chor kann freilich nur ein fiktiver sein: Interne Konflikte und nicht-kompromissbereite Individualinteressen, die in der Realität nun einmal vorkommen, werden konsequent ausgeklammert, und alles wird in einen Monopol-Meinungsblock gepresst. Thalheimer hat die Gefahr erkannt und lässt einige Schauspieler vor die Rampe treten, auf dass sie ihre privaten Sorgen und Wünsche aus ihrem darbenden Inneren herauskatapultieren. Christiane von Poelnitz etwa erhält ebenso eine Solorolle wie Stefanie Rheinsberger, die ihren Auftritt nutzt zur Selbstfeier des Wiener Dialekts.

 

Christiane von Poelnitz

© Tsui/Wikipedia

 

Keine Betroffenheit

Wir sind die Unangekündigten, lässt Jelinek ihre Figuren pathetisch ausrufen, als habe jemand angenommen, sie würden einen Brief oder eine Videobotschaft vorausschicken und sich für eine gemütliche Bleibe anmelden. Wieder hat Jelinek mit ihrem Assoziationswirrwarr eine überwürzte Sprachbrühe hinterlassen, aber diesmal wird sie auch konkreter und greift sogar zu formelhaften Parolen. Den Unzugehörigen legt sie gegen Ende in den Mund, dass sie sich darüber beschweren, nach kurzem Medieninteresse wieder in die Versenkung zu verschwinden. Sie sind weg, als seien sie nie dagewesen. Nur kann es nicht ihr Anliegen sein, einer permanenten öffentlichen Aufmerksamkeit ausgesetzt zu werden. Trotz dieser mit Verve vorgetragenen Leidenslitanei will sich ein authentische Betroffenheit nicht einstellen. Zu saturiert und vollgepumpt mit Informationen sind die medial abgehärteten Zuschauer. Thalheimer begegnet Jelineks Sprache mit einer recht feinen Ästhetik. Und in der Tat, ihm ist ein atmosphärisch dicht pulsierender Abend gelungen. Vielleicht ist das Unternehmen angesichts der Dringlichkeit des Themas doch etwas zu ästhetisch. Aber Kunstgewerbe ist das keineswegs.

Die Schutzbefohlenen
von Elfriede Jelinek
Regie: Michael Thalheimer, Bühnenbild: Olaf Altmann, Kostüme: Katrin Lea Tag, Chorleitung: Marcus Crome, Musik: Bert Wrede, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Klaus Missbach.
Mit: Christiane von Poelnitz. Jasna Fritzi Bauer, Catrin Striebeck, Sarah Viktoria Frick, Alexandra Henkel,, Stefanie Reinsperger,, Adina Vetter, Tilo Nest, Thomas Reisinger, Lucas Gregorowicz, André Meyer, Tino Hillebrand, Daniel Jesch, Marcus Kiepe, Daniel Sträßer, Stefan Wieland, Marelize Gerber, Ghazal Kazemi, Anna Manske, Monika Schwabegger.

Deutsches Theater Berlin

Gastspiel vom 22. Juni 2015
Dauer: 90 Minuten, keine Pause

 

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