Deutsches Theater Berlin: Kritik von "Don Carlos" – Stephan Kimmig
Premiere des Schiller-Dramas. Der Regisseur Kimmig hat seine Kunst der Entschleunigung perfektioniert.
DT, vor der Premiere
© Steffen Kassel
Kriecher und Schleimer
2009 hat Florian von Hoermann im Badischen Staatstheater Karlsruhe einen grandiosen "Don Carlos" hingelegt: Der spanische Hofstaat wurde als Mafia-Clan dargestellt. Weit davon entfernt, finden sich in Kimmigs Version hauptsächlich Einzelkämpfer, die unter dem Dach des amtsmüden, aber despotischen Königs Philipp ( Ulrich Matthes) ihre eigenen Interessen verfolgen. Selbstverständlich gibt es auch Kriecher und Schleimer, etwa der Herzog von Alba (Henning Vogt) und Pater Domingo (Jürgen Huth). Letzterer ist ein Ausbund charismatischer Farblosigkeit, ein staubtrockener Biedermann und Pfaffenagent, der auch mal Beichtgeheimnisse an Philipp weiterreicht. Im Grunde oszilliert das Drama zwischen den königlichen Machterhaltungsstrategien, den Freiheitsideen des Marquis von Posa (Andreas Döhler) und den privaten, intrigenreichen Liebeskämpfen.
Ein Augenspiel
Es wäre nun verfehlt zu behaupten, Kimmig hätte den Freiheitsverkünder Posa, der eine Versöhnung von Fürstengröße und Bürgerglück anvisiert, in den Hintergrund gerückt. Frech kommt Döhler daher, hemdsärmlig und beinahe schnoddrig, und fordert vom König eine Gedankenfreiheit, die er im Zuge der Leidenschaft geradezu herausbrüllt. Und natürlich: "Ich bin ein Bürger derer, die da kommen werden." Aber der kommende Bürger, von Gedanken der Aufklärung befeuert, interessiert Kimmig nicht weiter – er ist kein politischer Visionär, eher ein Buchhalter der Theatergeschichte. Was Philipp imponiert, ist nicht die Freiheitsidee, sondern die Kühnheit des Vortrags. Solche Leute kann man gut ins Machtgefüge einspannen, um unbequeme Bürger wegzuräumen, außerdem braucht der König einen kongenialen Gesprächspartner zur Füllung seiner einsamen Stunden. Ulrich Matthes, der eigentlich im Film seine besseren Auftritte hat, kann diesmal überzeugen, vor allem hinsichtlich seines Mienenspiels. Erlöschende Lebenskraft und zugleich der unbedingte Wille, ohne jegliche Altersmilde die Dynastie zu erhalten. Ein Augenspiel!
Verschmähte Liebe heult
Zuschauer, die, an Goschs Möwe denkend, Kathleen Morgeneyer immer noch klagend auf einem Stein stehen sehen, haben bei "Don Carlos" ein Wiedererweckungserlebnis. Das gleiche Gejammer und Geheule, als sei Prinzessin Eboli in einem pubertärem Stadium stehengeblieben. Plötzlich steht sie im Slip da, um bei Don Carlos' (Alexander Khuon) selten aktivierten Sinnen anzudocken, doch er wehrt wegen seiner Liebe zur Königin (Katrin Wichmann) ab. Immerhin, Kathleen Morgeneyer vermag eine verschmähte, desillusionierte Liebende gut rüberzubringen, wobei der lächerliche Rachegedanken als Regressionsschub aus dem Haus Schiller zu betrachten ist.
Kimmig, der mit einer aufgehängten kleinen EU-Fahne den aktualitätsbezogenen Kritikern einen Knochen zum Abnagen hinwirft, ergreift überhaupt keine Partei – anscheinend hat er eine hohe Erwartung an das Wort. Indem er auf die üblichen Showelemente verzichtet und sich auf das nackte Textgerüst einlässt, offenbart er sich als Anwalt des Literaturtheaters. Seine Zukunft ist nicht politisch orientiert, denn die Bürger, die da kommen werden, sind für ihn Theaterbürger, die sich weit entfernt von artifizieller Verbrämung ganz dem Wort hingeben, denn, wie man weiß, war es im Anfang.
Don Carlos
von Friedrich Schiller
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Antje Rabes, Musik: Michael Verhovec, Dramaturgie: John von Düffel.
Mit: Kathleen Morgeneyer, Ulrich Matthes, Jürgen Huth, Alexander Khuon, Katrin Wichmann, Andreas Döhler, Barbara Schnitzler, Henning Vogt.
Premiere vom 30. April 2015
Dauer: 3 Stunden 45 Minuten, eine Pause
Bildquelle:
Ruth Weitz
(Lilli Chapeau und ihr kleinstes Theater der Welt in Miltenberg)