Toxische Menschen

Konventionelle Geschichten mit Anfang und Schluss haben Pollesch nie interessiert, er verlegt sich lieber aufs diskursive, analytische Fach und es steigt eine Atmosphäre auf, die an wortgewaltige geisteswissenschaftliche Proseminare erinnert. Die intellektuelle, von Slapstick forcierte Ausschmückung bringt es mit sich, dass auch der Soziologe Max Weber aufs Tapet gebracht wird, allerdings nur flüchtig, erwähnungsweise. Und dann der Denker Slavoj Žižek, der eloquent von toxischen Individuen spricht, die, unersättlich rebellisch und übertrieben libidinös fixiert, das Mitmenschentum vergessen haben und in Quarantäne gesteckt werden sollen. Toxisch, am besten mit ‚vergiftet' zu bezeichnen, sind aber fast alle, und irgendwann erkennt man im vermeintlich Fremden auch den Mitmenschen. Wer sich Polleschs Inszenierungen ansieht, weiß, welche Bücher er in letzter Zeit gelesen hat, um seine geschickt eingesetzte Ingeniosität entsprechend zu platzieren.

 

Wie Grundsatzdebatten in einer kreativen WG-Küche

Sandra Hüller

© Wikipedia/Smalltown Boy

 

Diesmal geht es ungewöhnlich lustig zu, die Zuschauer brechen in Lachsalven aus, auch wenn sie wegen des schnellen, sich förmlich überschlagenden Heruntergerassels nur die Hälfte verstehen. Der fleischige Belgier Benny Claessens hüpft in voller Ledertracht herum und verausgabt sich, als wolle er in dieser Aufführung mindestens 1 Kilo abnehmen. Sandra Hüller scheint für Pollesch wie geschaffen zu sein, sie erinnert an die diskussionslüsterne Caroline Peters, die im Verbund mit Sophie Rois in der Mitte der Nullerjahre das Pollesch-Theater emporgehoben hat und für einen gewissen Anspruch sorgte, ähnlich wie bei Grundsatzdebatten in einer WG-Küche, wo ein spiritueller Ansatz goutiert wird. Was würde der Regisseur machen ohne derartige Schauspieler? Katja Bürgle hat einen schneidigen Charme, anheimelnd, gleichsam magisch, aber auch mit distanzierten Elementen. Kristof Van Boven hingegen hält sich eher zurück, er beschränkt sich auf das Unauffällige, das durch die Hintertür hereinkommt.

 

Die Schauspieler sollen für Entlastung der Zuschauer sorgen

Warum wird nur so gut gespielt, fragt man sich. Die letzten Premieren in der Berliner Volksbühne waren durchwachsen, anscheinend hat der Regisseur seine Energie, sein kognitives System für die Münchner Kammerspiele programmiert, vielleicht geschieht bald eine Verlagerung seines Lebenszentrums. Dabei tauchen viele Gemeinplätze auf: Sicherlich, es gibt Menschen, die nach der Rettung von zwei Delfinen traurig sind. Aber es gibt auch Menschen, die nach der Bergung zweier Mitmenschen traurig sind. Ein Weg zur transzendentalen Erlösung ist das mitnichten. Den Zuschauern werden auch nicht, wie behauptet, Emotionen abgenommen, weil das angeblich von den als Gefühlsersatz fungierenden Schauspielern erledigt wird. Das Publikum ist nicht entlastet, sondern empathiewillig, sofern man gefühlsmäßig nicht ganz verrostet ist und alle Emotionen abschaltet. Das Geheimnis von Pollesch ist die Verpackung: In der Kombination von Intellektualität, weltumspannenden Analogien und Unterhaltung ist er ein Genie ungewöhnlichen Ranges. Der Kritiker hat nur etwa 20 Pollesch-Inszenierungen gesehen, wie bei einer schlechten Angewohnheit, aber immer wieder geht er hin. Am 25. Juni kommt die nächste Premiere in der Berliner Volksbühne.

Gasoline Bill
von René Pollesch
Regie: René Pollesch, Bühne: Bert Neumann, Kostüme: Nina von Mechow, Dramaturgie: Tobias Staab.
Mit: Katja Bürkle, Sandra Hüller, Benny Claessens, Kristof van Boven.

Deutsches Theater Berlin

Gastspiel vom 9. Juni 2014
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

 

 

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