Deutsches Theater Berlin: Kritik von "Herbstsonate" – Jan Bosse
Berlin-Premiere. Der Regisseur Bosse bringt Ingmar Bergmanns Film "Herbstsonate" auf die Bühne. Ein Psychokrieg zwischen Mutter und Tochter wegen vorenthaltener Liebe.
Fritzi Haberlandt
© César/Wikipedia
Ein verwinkeltes Leichenhaus
Von einem Diven-Krieg zu sprechen wäre verfehlt: Die von Fritzi Haberlandt gespielte Eva ist eher bodenständig und hat, im Gegensatz zu ihrer Mutter (Corinna Harfouch), nichts Weltläufiges an sich. Der Duft der großen weiten Welt wurde mit dem Rückzug ins Provinzielle vertauscht. Dass es kein Prekariatsduft ist, hat sie ihrem Mann Viktor (Andreas Leupold) zu verdanken, der es als spröder, staubtrockener Oberpfaffen-Kurier geschafft hat, ihr ein solides, halbwegs betuchtes Leben zu gewährleisten, allerdings in einem verwinkelten Bau, der einem Leichenhaus ähnelt. Die Zimmer sind so geschmacklos tapeziert und dekoriert, als seien sie deshalb installiert, um die Nerven aufzuwirbeln und einen Melancholiker aggressiv zu stimmen. Die Reizlosigkeit dieser Containerbauten erreicht ihren Gipfel durch eine destaströse Illumination, die an eine dunkle Kirchenecke erinnert und einen Hauch von Grabesluft verströmt. In dieser provisorisch wirkenden Wohnanlage haust auch Evas behinderte Schwester Helena (Natalia Belitski), die ihren Körper von einer Ecke zur anderen bugsiert, auch auf eine Feuerleiter, die ins Nichts führt und an die menschliche Hybris gemahnt, in den Himmel wachsen zu wollen.
Leben für die Kunst
Ein Ort der Weltflucht, und Eva, eigentlich ein Bündel der Versagung, hat Sehnsüchte in sich entwickelt, die sich niemals verwirklichen lassen. Die Vergangenheit kann sie nicht mehr ungeschehen machen, doch sie verlangt nach Korrekturen und möchte sich Luft verschaffen. Anders hingegen Charlotte: Formgewandt, Dame von Welt, urban-progressiv und weitgereist. Aber wo ist die Liebe geblieben? In ihrer Kindheit hat sie keine Liebe empfangen und deshalb konnte sie auch keine an Eva weitergeben, nicht einmal vortäuschen. Charlotte ist eine Künstlerin, eine Pianistin, die vor allem ihrer Karriere verpflichtet ist, während Eva eine Karriere als Hausfrau anvisiert hat. All das, was Charlotte bislang vorenthalten wurde, hat sie in ihre feine Kunst gesteckt, äußerst beflissen, etwas selbstbesessen, ohne Rücksicht auf (emotionale) Verluste. Natürlich erinnert Charlotte an jene Künstlertypen wie Thomas Mann, die, dermaßen in ihre Arbeit versunken, nicht einmal wissen, was in der eigenen Familie vor sich geht. Aber die Opfer ihres egozentrischen Wesens hat Charlotte bewusst in Kauf genommen.
Blockierte Verarbeitungsmechanismen
Es ist, als sei die Nabelschnur niemals durchtrennt worden, sagt Eva. Als würde sie immer noch unauflöslich mit ihrer Mutter zusammenhängen. Dabei ist die Nabelschnur längst durchtrennt, nicht nur wegen der räumlichen Distanz. Bei Eva erweist sich diese Einschätzung als ein bloßes Gehirnphänomen, weil ihre Verarbeitungsmechanismen scheinbar blockiert sind. Weit davon entfernt, die Vergangenheit zu verklären und das Schmerzhafte zu vergessen, wühlt sie in ihren alten Wunden herum, als sei das die einzige Möglichkeit, sie zu schließen. Es entsteht ein wahrer Psychokrieg, mit allen jäh ausgesprochenen Unmöglichkeiten, mit Gezank, Geschrei und Tränen. Einigen Zuschauer mag dieser Konflikt wie ein Ereignis von einem anderen Stern vorkommen, zumal die Kontrahentinnen genau das machen, was sie nicht tun sollten: Reden. Das gesellschaftliche Miteinander kann nur dann funktionieren, wenn manche Dinge in den Mantel des Schweigens gehüllt werden. Die radikale Offenheit ist nur etwas für Authentizitätssüchtige, die Höflichkeit und Zurückhaltung hauptsächlich deshalb ablehnen, weil sie ohnehin nicht ernst gemeint sind. Explosives Reden führt in diesem Fall nur dazu, den anderen übertrumpfen zu wollen und den Sieg davonzutragen. Aber immerhin wird durch ein derartiges Aussprache-Duell den Zuschauern ein stellenweise behaglicher Abend beschert, nicht zuletzt wegen der Leistungen von Corinna Harfouch und Fritzi Haberlandt. Ein harmonisches, langsam dahinplätscherndes Familienleben interessiert niemanden.
Herbstsonate
nach dem Film von Ingmar Bergman
übersetzt von Heiner Gimmler
Regie: Jan Bosse, Bühne: Moritz Müller, Kostüme: Kathrin Plath, Musik: Arno Kraehahn, Video: Meika Dresenkamp, Licht: Kevin Sock, Dramaturgie: Gabriella Bußacker.
Mit: Corinna Harfouch, Fritzi Haberlandt, Natalia Belitski, Andreas Leupold, Damian Fink/ Bennet Schuster.
Berlin-Premiere vom 23. Januar 2015
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
Bildquelle:
Ruth Weitz
(Lilli Chapeau und ihr kleinstes Theater der Welt in Miltenberg)