Bernd Birkhahn, Petra Morzé

© Reinhard Werner

 

 

Die eigene Hölle ist schöner

Es ist dies die zweite lange Nacht der Autorinnen, übrigens mit einer Überfülle an Angeboten. Drei Uraufführungen werden am 23. Juni herausgehauen. Eine davon ist "Kartonage", und es geht los mit einem an die Wand projizierten Video. Wir hören Ella, elle l'a von Fance Gall aus dem Jahr 1987. Wer damals das Glück hatte, wegen "Ausgebranntheit" eine Erholungskur von der Krankenkasse herauszuholen, wurde mit diesem Radiohit in den noch jungen Tag geschickt. Eine Videogeschichte wird gezeigt, die auch gleichzeitig die Vorgeschichte der Tochter Rosalie (Irina Sulaver) ist. Von wegen Ella, elle l'a. Rosalies Freundin Ella (Marta Kizyma) macht sich wegen eines Unglücks vor der Zeit aus dem Staub. Eines Tages erscheint die verschollen geglaubte Rosalie mit blutverschmiertem Knie bei ihren Eltern, um die Werners (so der Name) in ihrer biederen Höhle zu komplettieren. Sie trifft auf wasserfarbene, pastellartige Hauskleidung, die von der Zeit gänzlich verwaschen und ausgebleicht wurde, ähnlich wie ihre Seelen. Bernd Birkhahn kann den halben Tattergreis auch mit zielgerichteter Vehemenz. Sie muss raus! – und das unverzüglich. Nach zwanzigjähriger Verweigerung der Außenwelt – das Essen wird vermutlich gebracht oder wie bei Beckett durch eine Luke hindurchgeschoben – wirkt der freche Eindringling wie jemand von einem anderen Planeten. Die verkrusteten Werners haben sich eine eigene Hölle geschaffen, weil die Hölle draußen noch viel schlimmer ist.

 

Ella, elle l'a!

Rosalie, die offenbar als verwestes Kleinkind ins Dasein hineingestellt wurde, hält ihre "Altvorderen" für geisteskrank und erfährt, dass hier mit Ohrfeigen geredet wird. Im Verteilen von zarten bis heftigen Backenstreichen triumphiert Mama Werner (Petra Morzé), sie ist die Stärkste. Der Regisseur Franz-Xaver Mayr muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er Rosalie zu viel chargieren lässt. Die Zuschauer*innen erleben eine Märchenhexe mit allen überzogenen Kunstmitteln, die zu diesem Fach gehören und sich auch vorzüglich fürs Kasperle-Theater eignen. Die Geschichte, trägt dahinfließend, weil nicht auf ein Finale zulaufend, wandert immer mehr in eine Groteske hinein, in der die Figuren sich verfangen. Um ein wenig Heimatstimmung zu verbreiten, intonieren die beiden Alten eine Art Tirol-Lied, vielleicht mit der Absicht, den letzten Urlaub in Kufstein wachzuhalten. Dann geht's mühsam weiter – beinahe naturgemäß mit Ohrfeigen. Der Alte erhält eine beim Schlürfen von Marmelade. Rossalie entdeckt ebenfalls die Kraft des Schlagens und wird prompt von der Mama mit verdoppelter Schlagkraft gekontert. Und immer wieder der weibliche Sprössling: Warum geht ihr nicht raus? Unvermittelt flippt der Alte aus und greift an die außer Betrieb gesetzte Muschi der Gattin. Das ist der Strinberg'sche Totentanz, ins Absurde gesteigert. Mama zieht den verwegenen Wüstling hinter sich her und haut ihm auf den Kopf. Es fehlt noch die Vergewaltigung, doch die Abscheu vor dem ausgeleierten Fleisch ist zu groß. Der Alte weiß sich nicht mehr zu helfen und attackiert Rosalie, die eh verrückt ist und weg muss. Die Alten halten ihren Alltag für Normalität, alles anders ist oskur und eigentlich gar nicht vorhanden. Am Ende weiß das genauso lachanfällige wie erschöpfte Publikum: Draußen kann es nur schöner sein. Draußen, "es ist wie eine Art Fröhlichkeit, wie ein Lächeln". Ella, elle l'a!

 

Kartonage

Koproduktion Burgtheater Wien und Deutsches Theater Berlin

Regie Franz-Xaver Mayr, Bühne Michela Flück, Kostüme Korbinian Schmidt, Video Sophie Lux, Musik Levent Pinarci, Dramaturgie Florian Hirsch, Licht Norbert Gottwald.

Es spielen: Bernd Birkhahn, Petra Morzé, Irina Sulaver, Marta Kizyma.

Deutsches Theater Berlin, Uraufführung vom 23. Juni 2017.

Dauer: 90 Minuten
 

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