Ein Opfer der Revolution

@ Arno Declair

 

Ein bizarres Reich des Wundersamen

Die Aufführung ist eine halbes Puppentheater. Eine Märchenlandschaft mit wundervoller Attrappe (Bühne: Barbara Ehnes). Und die Kostümbildnerin Annabelle Witt verwaltet ein Verkleidungshochamt, das zeitmäßig halbwegs comme il faut ist, aber sich etliche Verfremdungen herausnimmt. Die Schauspieler*innen agieren teilweise auf Knien, denen herumbaulmende künstliche Schaumgummi-Beine vorgespannt sind. Damit hat der Regisseur ein leicht bizarres Reich des Wundersamen geschaffen, in das, visuell betrachtet, auch fortgeschrittene Kinder eintauchen können. Angesichts der Bühnenästhetik scheint es, als habe der Pop-Regisseur seine Inszenierung mit einer auf Kulisse setzenden, pikanten Kriegenburg-Sauce verrührt. Pucher zitiert ungenau gern, nimmt Anleihen von Kolleg*innen der literarischen und filmischen Welt, ohne allerdings in einen plumpen Eklektizismus abzufallen. Benjamin Lillie als ehemaliger Priester Jacques Roux beispielsweise verhält sich, als habe er zu viel Klaus Kinski gesehen. Parallelen zu Werner Herzogs Nosferatu sind vermutlich nicht rein zufällig. Und Totenköpfe – die Guillotine arbeitet unermüdlich - sind auf Pfählen aufgespießt, als befinde man sich in Joseph Conrads Roman Herz der Finsternis.

 

Der Volks-Chor will mehr

Trotzdem hat Pucher eine eigenwillige Ästhetik entwickelt, die sich vom Kasperletheater wohltuend entfernt. Hinter der Oberfläche leuchtet Subtilität hindurch. Weniger subtil ist – beinahe ein literarkritisches Schlagwort – die plakative Gegenüberstellung von Marat (Daniel Hoevels) und de Sade (Felix Goeser). Sozialistische Gleichheitsideen gegen die fast schon rabiat geäußerte Selbstentfaltung? Goeser als Irrenanstalts-Regisseur, der einen andern Freiheitsbegriff verinnerlicht hat, reagiert partiell mit einer durchdachten Brüll-Offensive und tut das, was er am besten kann. Hoevels dagegen wirkt wie ein verkommener Repräsentant der evolutionären Revolution im Endstadium. Ganz im Sinne von Peter Weiss hat Pucher die Gegensätze klar konturiert – leider ein bisschen zu scharf. Für rationale Zwischeninstanzen bleibt kein Platz. Immerhin ist das Ensemble in guter Form: Katrin Wichmann spielt ihre Rolle als Charlotte Corday stellenweise superp. Und Anita Vulesica wühlt sich als wortgewaltige Moderatorin in den Vordergrund, und den dominiert sie in schauspielerischen Unterbrechungsphasen und Rückzugsbewegungen. Letztlich ist es trotz allen Klamauks eine ernsthafte Inszenierung geworden. Pucher ist aktuell geworden, obwohl er als Mitglied des visuellen Genussbetriebs auf historische Verbrämungen setzt. Der Chor wird inszeniert als eine Bedrohung, die sich als Volkskraft mit Führerwunsch gebärdet. Ist Pucher politisch geworden?

Marat / Sade
von Peter Weiss
Regie: Stefan Pucher, Bühne: Barbara Ehnes, Kostüme: Annabelle Witt, Musik: Christopher Uhe, Video: Meika Dresenkamp, Künstlerische Leitung des Chors: Christine Groß, Coaching Puppen: Jochen Menzel, Dramaturgie: John von Düffel, Licht: Matthias Vogel, Maske: Andreas Müller.
Mit: Benjamin Lillie, Katrin Wichmann, Anita Vulesica, Felix Goeser,, Daniel Hoevels, Michael Goldberg, Bernd Moss.

Studierende der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" Berlin: Johanna Meinhard, Tabitha Frehner, Victor Tahal, Viktor Nilsson, Johannes Nussbaum, Thomas Prenn, Mascha Schneider, Sonja Viegener, Daniel Séjourné, Juno Zobel.

Musiker: Chikara Aoshima, Michael Mühlhaus.

Deutsches Theater Berlin, Premiere war am 27. November 2016
Dauer: ca. 100 Minuten, keine Pause

 

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