Aufführungsplakat

© Steffen Kassel

 

Rückgriff auf aussagekräftige, schillernde Autoren

Wer Petras Arbeiten ein bisschen näher kennt, mag sich verwundern, dass ausgerechnet die Lektüre Nietzsches als ein Antriebsfaktor und Stichwortgeber fungiert. Das Chaos, hören wir, ist ein Impulsgeber für die Schauspielerexistenz, die das Chaos in sich trägt. "Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können", so der teilweise dichtende Philosoph im Seiltänzer-Anfang des Zarathustra, zu dem man als bequemlicher Mensch nicht lange blättern muss. Aber nicht: "Du hast aus der Gefahr einen Beruf gemacht...Nun gehst Du an deinem Beruf zugrunde: dafür will ich dich mit meinen Händen begraben." Peschel indes geht nicht zugrunde, er zitiert lediglich aus einer Reclam-Ausgabe, die er mit sich führt wie eine Ersatzbibel, zumal die sogenannte Gefahr für ihn ein Lebenselixier ist. Petras bemüht noch andere Autoren (Dostojewski, Tschechow, Tolstoi), bei denen er sich nicht zufällig besonders gut auskennt. Klar, Peschel hat im Gorki Theater unter anderem bei Anna Karenina mitgewirkt (Premiere 27.5. 2008), unter der Regie von Jan Bosse, der auch diesmal die Regie führt. Peschel, Petras und Bosse – es handelt sich hier um eine betriebsbedingte, beinahe familiäre Geschichte mit dem Ziel, Peschels künstlerischen Selbstausdruck in Reinkultur zu präsentieren. Das gelingt mitunter vorzüglich, und es passiert auch, dass Peschel nicht vom Teufel, sondern von Castorf geritten wird. In einer Stelle ertönt ein lautes Geschrei, die Stimme überschlägt sich und erreicht höhere Tondimensionen, die für nostalgieanfällige Rezipienten fast zu einer Verklärung führen: Die Volksbühne vor zehn Jahren.

 

Lügen gemäß dem Lügenbaron

Peschel reflektiert, nölt im Berliner Straßenjargon und gibt geklaute (besser: zitierte) Sentenzen von sich, über das Schauspielerleben an sich, die Kollegen, die Figurengestaltung, das Betriebsklima und andere branchentypische Modalitäten. Lügen spielen dabei eine gewisse Rolle – ist nicht die Verwandlung in eine Figur schon ein Lüge? -, und dabei ist die Brücke zum titelschaffenden Lügenbaron Münchhausen geschafft. Ein auf der Bühne auftauchender großer Gummiball ist die luftdurchsegelnde Kanonenkugel, eigentlich reserviert für den Intensivkompagnon Martin Otting, den er gern und regelmäßig in seine Auftritte einbaut. Der aber verweigert sich als angeblich momentan bühnenabstinenter Schauspieler, da er aus Survival-Gründen bei Zalando beschäftigt ist und sich mehr um den dekorativen Aspekt modischer Billigsandalen kümmern muss. Als endlich Otting in den letzten zehn Minuten auftritt, wird eigentlich die zweite Luft erwartet – doch die Luft ist längst schon raus. In der letzten halben Stunde ist Petras nicht mehr sonderlich viel Originelles eingefallen, der weiterhin bemühte Monolog plätschert vor sich hin und es nützt auch nichts, einen hartnäckig aufgeforderten Freiwilligen aus dem Publikum auf die Bühne zu holen, um gewisse TV-Szenarien zu parodieren. Immerhin: Ein Schauspieler denkt immer auch ans Publikum. Er denkt sogar so sehr ans Publikum, dass es vorkommt, dass sich ein Schauspieler in jemand aus dem Zuschauerkreis verliebt. Ist das nun berufsschädigende psychische Schwäche oder bare Menschlichkeit? Wir wissen es nicht, was wir aber wissen, ist, dass sich Peschel weiterhin in Hochform befindet. Seine Performance ist wie ein vorläufiges Fazit, ein bunter Zwischenbericht, angefüllt mit humorvollen Selbstdarstellungen. Hier, im Spiel ist Peschel ganz bei sich selbst. Kein Wunder, dass sich lebensabschnittsbegleitende Filmkollegen wie Matthias Schweighöfer, der mittlerweile fernseh-komödiantisch orientierte Volksbühnen-Veteran Henry Hübchen und andere eingefunden haben.

Münchhausen
von Armin Petras
Uraufführung
Regie: Jan Bosse, Ausstattung: Kathrin Plath, Dramaturgie: Ulrich Beck, Licht: Marco Scherle.
Mit: Milan Peschel, Martin Otting.

Deutsches Theater Berlin

Berlin-Premiere vom 17. September 2015
Dauer: ca. 1 Stunde 50 Minuten

 

 

Laden ...
Fehler!