Marcel Kohler, Elias Arens ...

Marcel Kohler, Elias Arens, Franziska Machens, Frank Seppeler, Wiebke Mollenhauer, Lisa Hrdina, Henning Vogt (Bild: © Arno Declair)

Die bürgerlichen Werte zerrinnen

1923, das ist die Zeit der Akkumulation von Krisen: Inflation, Ruhrgebietsbesetzung, kommunistische Aufstände, Hitler-Putsch und separatistische Strebungen. Die bürgerlichen Werte sind teilweise in Auflösung begriffen, einige Bevölkerungsteile gleiten ab in die gesellschaftliche Tiefgarage, andere wenige Gerissene hingegen maximieren durch Spekulationen ihre Profite. Fürchtegott Lehmann versucht das im kleinen Maßstab, in einem Minimalsoziotop, wo eigentlich nur der abwesende Wirt und die Kellnerin (Lisa Hridina) ein halbwegs "normales" Leben führen. Es ist bezeichnend, dass Fürchtegott den verarmten Musiker Klein(Elias Arens), der wie in einer Knastzelle dahinvegetiert, wegen Mietrückstands gnadenlos hinauskomplimentieren möchte. Da hilft auch ein mit Leidenschaft gespieltes Ständchen nichts mehr. Eine Machtposition im Haus hat auch der Zuhälter Wladimir (Henning Vogt) errungen, dessen Kleinreich über Prostituierte nicht hinausreicht. Gilda (Franzika Machens) ist eine davon, die sich zudem sehr schwatzhaft und schrill gebärdet. Machens trägt eine knallige Rothaar-Perücke mit Pony und Lockenwickler-Touch und wird dadurch beinahe unkenntlich gemacht. Sie spielt ein verrücktes Huhn, als mache es erst diese Verkleidung möglich, dass sie auf der Bühne erstmals etwas "die Sau rauslässt". Wladimir, ein Mann wie ein Schrank, legt Macho-Allüren an den Tag und redet wie Nietzsche in den bedenklichen Stellen seines Nachlasses. Fehlt nur noch "was mich nicht umbringt, macht mich stärker" (Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse). Dafür Heraklits "Der Krieg ist der Vater aller Dinge", ohne die Bedeutung im Sinne des Urhebers zu erkennen.

 

Zu lieben verlernt

Das Bühnenbild – geschmacklose braune Muster als Tapete – erhöht den Depressionsfaktor. Es werden Textstellen Horváths auf die Hinterwand projiziert, die beim Nachlesen allerdings die Aufmerksamkeit von den (Sprech-)Handlungen abziehen oder schwer zugänglich sind, weil die Akteur*innen davorstehen. Die sind bemüht, aus dem unausgegorenen Stoff etwas Ansehnliches zu gestalten – was ihnen ganz gut gelingt. Im Programmheft lässt sich der Regisseur Pařízek vernehmen, dass jeder ökonomischen Krise eine moralische vorausgehe. Derart heruntergekommene Verhältnisse, die als Beispiel etlicher ähnlicher Häuser gelten, sollen die Inflation erst möglich gemacht haben? Es war wohl eher umgekehrt. Bei Ursula (Wiebke Mollenhauer) hat sich die soziale Lage dermaßen verschärft, dass sie nur noch ihr eigenes Fleisch bei Wladimir verkaufen kann. Wie aus einem Impuls heraus heiratet sie Fürchtegott, der sich angesichts der ungeahnten Triebablademöglichkeit nun bessern möchte. Er steigert sich auch gewaltig: Zu sehen ist die Zunahme an abgezockter Fiesheit. Als sein Bruder Kaspar (Frank Seppeler) eintrifft, ensteht ein von Zynismen gesättigtes Rededuell, das ins Körperliche ausufert – noch eine der besten Szenen. Ursula, von Anfang an von Fürchtegott angeekelt, wirft sich in die Arme von Kaspar, um sich einige Kuscheleinheiten abzuholen. Trotz all der erlittenen Niedertracht ist hier wenigstens die Sehnsucht nach Wärme vorhanden. Die anderen wollen sich nicht aufwärmen – sie haben zu lieben verlernt. Ist das wirklich eine pralle Geschichte? Wohl eher die Darstellung von Einzelschicksalen, die miteinander um ihr jämmerliches Fortkommen ringen. Horváths Drama, das aus der Faszination am Untergang geboren scheint, könnte endlos so weitergehen, wie bei einer Fernseh-Staffel. Hier müssen es die Schauspieler*innen reißen.

Niemand
Eine Tragödie in sieben Bildern
von Ödön von Horváth
Regie und Bühne: Dušan David Pařízek, Kostüme: Kamila Polívková, Musikalische Leitung: Marcel Braun, Licht: Thomas Langguth, Dramaturgie: Birgit Lengers.
Mit: Wiebke Mollenhauer, Marcel Kohler, Franziska Machens, Henning Vogt, Frank Seppeler, Lisa Hrdina, Elias Arens.

Deutsches Theater Berlin, Kammerspiele

Deutsche Erstaufführung vom 15. März 2017
Dauer: 120 Minuten, keine Pause

 

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