Deutsches Theater Berlin: Kritik von "Peer Gynt" – Ivan Panteleev
Premiere des Ibsen-Dramas. Die äußerst bunte, phantasiereiche Geschichte des umtriebigen Hochstaplers wird minimalistisch gespielt.
Samuel Finzi
© Wikipedia (Chester100/Udo Grimberg)
Ein tretender Leisetreter
Der Bühnenboden ist mit Sand ausgelegt, der von einem einzigen Strahler angeleuchtet wird. Zunächst ist die eine Hälfte erhellt und die andere liegt im Schatten, als sei die Bühne in zwei Zonen geteilt. Über dem Untergrund erhebt sich eine behelfsmäßige Hütte, die völlig unromantisch aus Stangen und Papier errichtet wurde und sich gelegentlich im Schleichtempo bewegt. Fragil ist die Behausung, ebenso fragil ist Gynt – sein Minderwertigkeitskomplex wird durch Großtuereien übertüncht. Samuel Finzi spielt ihn als jemand, der schon einiges durchgemacht hat und erste Anzeichen von Erschöpfung aufzeigt. Groß sind die Worte, aber relativ leise ist das Herausposaunen: Die Artistik des Schauspielers ist klein dosiert und gebremst. Finzi spielt keinen entfesselten Hedonisten und abenteuerlichen Weltenbummler, sondern einen tretenden Leisetreter, bei dem man im Spiel auf Zwischentöne und Nuancen achten muss. Es gibt nicht wenige sympathische Hochstapler, die man mit widerwilliger Bewunderung zur Kenntnis nimmt – Gynt gehört nicht zu ihnen. Er hat geradezu verabscheuungswürdige Verhaltensweisen, etwas wenn er im Rettungsboot (5. Akt) alle Insassen den Wellen übergibt, um sich allein zu retten. Oder wenn er die liebende Solveig einschüchtert: "Nein, das bin ich! Ein Werwolf bei Nacht! Ich fresse dein Schwesterchen, gib nur Acht, und dir sauge ich aus den Adern das Blut." Finzi, der erst gegen Ende voll aufdreht und dann seine facettenreiche Körpersprache und Kaspereien ostentativ zur Schau stellt, macht via Kunstgriff aus Gynt, der sich treiben lässt, weil er ein Getriebener ist, noch einen erträglichen Zeitgenossen. Der Anitheld schenkt der Beduinentänzerin Anitra Schmuck und sinkt vor ihr nieder, ohne das als Demütigung zu empfinden, zumal es sich hier nur um eine effektvolle große Geste handelt. Anders als im Text lässt er sich sogar freiwillig peitschen – Margit Bendokat nimmt einen Schal -, ohne Anitras Verschwinden verhindern zu können.
Wirkungsvolle Selbstinszenierungen
Margit Bendokat spielt alle anderen (Frauen-)Rollen, also Mutter Aase, Ingrid, Solveig und Anitra. Es ist ihres Wesens nicht, beim Figurenwechsel die Sprech- und Spielweise zu ändern. Im Grunde kann sie nur sich selbst spielen, allerdings in feiner, abgewandelter Form, und richtig hören können sie vor allem jene, denen mittlerweile die Ohren dafür gewachsen sind. Während die Frauen ein trocken schlagendes oder weites Herz mitbringen, sind sie für Gynt hauptsächlich optische und akustische Akzente. Gynt, geistig unbehaust und ohne Lebenszentrum, ist von einer politischen und sozialen Indifferenz, die eine Fühllosigkeit gegenüber dem Schicksal anderer nach sich zieht und ihn zu chamäleonhaften Verstellungstechniken, wirkungsvollen Selbstinszenierungen und Neuerfindungen treibt. Seine Falschheit ist seine Echtheit. Da er keine wahre Identität besitzt und seine Kernlosigkeit erkannt hat, besteht seine Identität im Austausch von Rollen, gleichgültig, ob er Sklavenhändler, chinesischer Missionar, Frauenjäger oder reumütiger Heimkehrer ist. Solch ein Mensch wird nie zu sich selbst finden, doch genau dafür soll er bestraft, zur Bleifigur eingeschmolzen werden: "Nachdem du doch niemals du selbst gewesen – was hast du dagegen, dich aufzulösen?"
Seltsam zeitenthoben
Das Stück ist seltsam zeitenthoben, es hat auch heute noch Gültigkeit. Die Welt ist voll von Menschen mit phasenweise unterbrochenen Erwerbsbiografien, die vor eigenwilligen Stationen nur so strotzen – weil man es nirgendwo lange aushält. Die Anpacker, die auf halbem Weg stehen bleiben und aus Langeweile und frisch erwachtem Antriebswillen etwas Neues beginnen. Finzi versucht ihnen ein Gesicht zu geben, und es ist nicht das schlechteste. Es ist ein Gesicht, angefüllt mit Unschuld und berechnendem Gelegenheitskalkül, aber ohne Zukunftsversicherung. Und das extrem magere, an seelische Verarmung gemahnende Inventar wirkt wie ein Damoklesschwert kurz vorm Niederfallen. Dieses gewollte Sparsamkeitstheater, das auf körperliche Nähe fast vollständig verzichtet, ist ein Schauspielertheater reinsten Wassers. Die mehr deklamierte als gespielte Handlung wird mitunter zur Nebensache, die Schauspieler sind die Handlung. Ein Aufruf zum genauen Hinsehen.
Peer Gynt
von Henrik Ibsen
Bearbeitung von Ivan Panteleev
Regie: Ivan Panteleev, Bühne und Kostüme: Johannes Schütz, Licht: Robert Grauel, Sounddesign: Martin Person, Dramaturgie: Claus Caesar.
Mit: Margit Bendokat und Samuel Finzi.
Deutsches Theater Berlin
Premiere vom 30. September 2015
Dauer: ca. 105 Minuten, keine Pause
Bildquelle:
Ruth Weitz
(Lilli Chapeau und ihr kleinstes Theater der Welt in Miltenberg)