Deutsches Theater Berlin: Kritik von "Phospheros" – Nis-Momme Stockmann
Gastspiel vom Residenztheater München. Die Figuren verstricken sich in private Konflikte und denken mehr an die Formung ihrer Individualität. Ein Eintauchen ins Wir gibt es nicht.Nis-Momme Stockmann (Bild: © Wikipedia)
Kein Blick aufs große Ganze
Lew Katz wird von Johannes Zirner gespielt, dem der Autor Nis-Momme Stockmann hervorragende, eloquente Monologe auf den Leib geschrieben hat. Dem Professor geht es wirklich um die Sache, er blüht darin auf, aber privat ist er eine Krücke. Ein eingebildeter Kranker, der sich nicht um seine Frau Anne (Katrin Röver) kümmert und stattdessen zwecks Selbststabilisierung zu einer Psychologin (Juliane Köhler) rennt, der eine psychische Betreuung ebenfalls gut täte. Juliane Köhler trägt eine lange Blondhaar-Perücke, die sie optisch aufwertet, leider chargiert sie an diesem Abend zu viel und überzieht ihr gestisches Repertoire, wenn es gar nicht nötig ist. Die vorzüglich aufgelegte Katrin Röver spielt eine Ehefrau, die sich nach mehr Zuwendung sehnt, aber selbst das ist für ihren Pragmatismusverächter zu viel, der seinerseits Bemutterung benötigt und nicht begreift, dass man als Professor auch administrative, managerähnliche Aufgaben zu absolvieren hat. Es gibt eine Menge Handlungsstränge in dieser Inszenierung, und alle ringen um Selbstverwirklichung, ohne zu wissen, was sie eigentlich sind oder wohin sie wollen. Der Blick auf das große Ganze geht dabei verloren, was auch immer das sein mag. Es sind Einzelkämpfer, die sich nicht um ein Gemeinschaftsgefühl scheren. Trotzdem bleibt das Verlangen nach irgendeiner Form der Verschmelzung.
Brezeln und Messer
Auf der kahlen, von einem Leuchter mit grellem Licht erfüllten Bühne herrscht Spielfreude pur. Man wundert sich: Warum wird so dermaßen gut gespielt? Die Schauspieler nutzen die Freiheit, die ihnen die Regisseurin Anne Lenk gegeben hat, zum Ausspielen ihrer Virtuosität. Da ist zum Beispiel der künstlerisch ambitionierte, sich als Ausnahmetalent sehende Kontrabassist Basil (Lukas Turtur), dessen Originalität vom Empfangschef Schröder (Thomas Gräßle) aus Routine und purer Boshaftigkeit herabgestuft wird. Gräßle, heiligs Blechle, beginnt zu schwäbeln und führt sich auf wie ein reputationsfähiger Macher großen Stils. Genija Rykova geht zu den Physik-Seminaren von Katz, arbeitet nebenher als Brezelverkäuferin im Zug und macht gerne vom Messer als Drohmittel Gebrauch. Ganz ein Kind der westlichen 70er-Jahre, lehnt sie anmaßende Autoritäten rundweg ab und will am liebsten alles wegräumen, was ihrer Ich-Entfaltung im Weg steht. Dazwischen müssen fast alle den Hund spielen, mit heraushängender Zunge und Winseln, vor allem Katharina Pichler und Arthur Klemt – viel ist auf den Hund gekommen.
Fehlende Nestwärme
Nis-Momme Stockmann hat einen grandiosen Text geschrieben, sprachsensibel und pointentreffend, aber das mit ihm geführte, im Programmheft fixierte Interview lässt einige Fragen offen. Er prangert das verlorene Kollektivgefühl, die Ich-Obsession und das selbstauferlegte"Individuationsdiktat" an. Nun, ist nicht die von oben erwünschte Egalisierung, das Konformitätsdiktat etwas, das es zu überwinden gilt? Seine Figuren wollen ausbrechen aus diesem Gleichmachungsdruck, ihren eigenen Weg gehen, auch wenn er in eine Sackgasse führt. Wie man wird, was man ist – das ist die Formel dieses Abends, das eigene Scheitern inbegriffen. Stockmann hat das Richtige getan, aber etwas anderes gewollt – die Suche nach einem gemeinschaftsstiftenden, auf Humanismus beruhenden Kanon. Letztlich gibt es keine Nestwärme, weil man zu stark auf sich selbst fixiert ist. Es ist ein Stück Weltschmerz, aber der süßeste, den man sich vorstellen kann. Der einzige Schwachpunkt ist der Chor des Wetterberichts, der an die in Romanen verwandte Montagetechnik erinnert. Ein Orkan zieht herauf, der quasi ein schicksalsmächtiges Urteil über die manisch angetriebenen Selbstverliebten spricht. Die Regisseurin Anne Lenk hat das ungewöhnliche Talent, die besten Sequenzen aus Stockmanns sprachgewaltigen Textkonvolut herauszuziehen. So kann man sagen: Aus diesem Werk wird das Maximum herausgeholt, was auch die Schauspieler betrifft, bei denen vor allem Katrin Röver und Johannes Zirner herausragen. Eine gewaltige, überwältigende, gleichsam berauschende Inszenierung. Schade, dass die Recklinghausener Premiere erst nach dem Theatertreffen stattfand.
Phosphoros
von Nis-Momme Stockmann
Koproduktion des Residenztheater München/Ruhrfestspiele Recklinghausen
Regie: Anne Lenk, Bühne: Judith Oswald, Kostüme: Silja Landsberg, Musik: Jan Faszbender, Licht: Uwe Grünewald, Dramaturgie: Andrea Koschwitz.
Mit: Katrin Röver, Johannes Zirner, Franz Pätzold, Lukas Turtur, Thomas Gräßle, Genija Rykova, Arthur Klemt, Katharina Pichler, Juliane Köhler.
Gastspiel vom 20. Juni 2015
Dauer: 3 Stunden, 10 Minuten, eine Pause
Bildquelle:
Ruth Weitz
(Lilli Chapeau und ihr kleinstes Theater der Welt in Miltenberg)