Eine deutsch-arabische Nachbarin kennt sich aus in der Szene

Das Wohnzimmer (Bühnenbild: Dirk Thiele) erinnert ans etablierte Kleinbürgertum, das den Blick nach oben scheut und den Absturz nach unten verhindern möchte. Um den Eindruck des Biederen triumphal zu konterkarieren, feuert Rafael Sanchez, ein eidgenössischer Regisseur mit spanischen Wurzeln, zackige bis überfallartige Videosequenzen heraus. Das Auge wird ob der übertriebenen Beschleunigung schier überfordert: Neben thematisch nahen Bauchtänzerinnen und arabischen Reitern tauchen auch noch andere Motive auf. Sind das nicht Romy Schneider und Rainer Werner Fassbinder? Egal, es geht weiter. Im unkuscheligen Konversationsraum sitzen die Krankenschwester Sabine (Birgit Walter) und ihre Demenzmutter (Margot Gödrös), die viele Menschen privat eher meiden würden, aber als humoristische Theaternummer uneingeschränkt goutieren. Hinzu gesellt sich Nicola Gründel als eine arabische Nachbarin, die, eingehüllt in eine orientalische Hardcore-Verpackung, eine liberale Haltung offenbart und aufgrund von Vorurteilen von den fragwürdigen Hausgenossinnen abgelehnt wird. Wenig später wird die in die "Wüste" Geschickte wieder zurückgeholt. Warum? Der Polizist (Jakob Leo Stark) taucht auf und beschuldigt den Sohn Philipp, der angeblich als IS-Terrorist nach Syrien gereist sein soll. Jetzt wird die ominöse Nachbarin als Szene-Kennerin wieder gebraucht.

 

Friedliche Sektierer werden als Dschihadisten behandelt

Gemeinsam gehen sie zu einem benachbarten Imam (Benjamin Höppner), der einen harmlosen, gediegenen, bürgerlichen Kurzvollbart trägt und ansonsten hartnäckig die arabische Linie entlanggeht, nicht ohne bei seinem religiös motivierten Konfrontationskurs zu schwanken. Als er erfährt, dass sein Sohn Mustafa mit dem besagten Philipp nach Syrien aufgebrochen sein soll, gerät er ins Schleudern – und fällt halb in Ohnmacht. Später kehren die verlorenen Söhne wieder zurück: Sie erweisen sich als sektiererische, friedliche Sufisten, werden aber weiterhin – aus Unkenntnis - als Dschihadisten behandelt. Die Farce nimmt ihren Lauf: Nicola Gründels Figur setzt bei einem der "Abtrünnigen" ein Elektroschockgerät ein, um Selbstjustiz walten zu lassen. Was will Ibrahim Amirs Stück nun sagen? Wir können es nur vermuten. Vieles ist wohl ein großes Missverständnis, würden sich die Menschen aus verschiedenen (Religions-)Kulturen nur besser kennen, wären etliche Komplikationen ausgeräumt. Das Tragische, das sich für die Reflexion eignet und einen Leidenssog auslösen könnte, wird überwölbt von einer komödiantischen Verve, die als entlarvendes Instrument der Aufklärung fungiert. Am Ende entwirft Rafael Sanchez die erste Szene noch einmal neu und arrangiert ein friedliches Miteinander, das keinen Kultur-Clash kennt. Man fühlt sich an gewisse Omas erinnert, die fürsorglich in die Hände klatschen: Ach Kinder, habt euch doch lieb! Hier sticht und beißt nichts, wie es Kafka von guten Texten gefordert hat. Immerhin ist das Projekt ganz unterhaltsam und spritzig gespielt, darüber hinaus etwas für Peacemaker.

Stirb, bevor du stirbst
von Ibrahim Amir
Regie: Rafael Sanchez, Bühne: Dirk Thiele, Kostüme: Sara Giancane, Musik: Cornelius Borgolte, Video: Bibi Abel, Licht: Jan Steinfatt, Dramaturgie: Thomas Laue.
Mit: Birgit Walter, Benjamin Höppner, Nicola Gründel, Justus Maier, Jakob Leo Stark, Nicolas Streit, Margot Gödrös.

Deutsches Theater Berlin

Gastspiel aus dem Schauspielhaus Köln vom 22. Juni 2016
Dauer: ca. 100 Minuten, keine Pause

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