Deutsches Theater Berlin: Kritik von "Tabula Rasa" – Tom Kühnel/Jürgen Kuttner
Premiere. Die beiden Regisseure inszenieren ein Drama von Carl Sternheim. Die verschiedenen Flügel der SPD werden kritisch durchleuchtet und teilweise unerbittlich karikiert.Seiltänzer zwischen den Flügeln
Inszenierungsplakat, wie stets unter Glas
© Steffen Kassel
Für Ständer (Felix Goeser), der sich als probaten, unverfälschten Sozialdemokraten ausgibt, stehen Anpassung und Zweckmäßigkeit im Zentrum seines Denkens. Die SPD, so lässt er sich vernehmen, gehört längst zum Establishment, eine Feststellung, die auch seine zu kurz gehaltene Magd (Judith Hofmann) nachplappert. Dem radikalen, auf Revolution abzielenden Sturm verspricht er ebenso wie dem moderaten Gegenspieler Arthur (Daniel Hoevels) uneingeschränkte Solidarität im Kampf gegen das Kapital, obwohl Ständer im Vergleich zu den darbenden Arbeitern ein sattes Gehalt erhält und quasi ein artistischer, ambitionierter Kleinkapitalist ist. Ein Seiltänzer zwischen den Flügeln, windet er sich seinen Weg hindurch, stets auf der Suche nach dem eigenen Vorteil. Christoph Franken als Sturm lässt sein notorisch ungewaschenes Haar immer länger wachsen und legt kämpferische Manieren an den Tag, als entspringe er einem robusteren, lederaffinen Menschenschlag, der sich in subkultureller Unbürgerlichkeit gefällt. Der blutige Umsturz muss her, keine Kompromisse.
Die vergessene Revolution
Zu Beginn wird auf einem kleinen Monitor ein kommunistischer Film gezeigt. Ein Mann sagt, die Revolution, der Dienst für seine Heimat, sei wichtiger als die Liebe. Die SPD hat nach Ausbruch des 1.Weltkriegs die Revolution ‚vergessen', denkt nur noch ans Vaterland und schließt Burgfrieden. Aufgelockert, ja gelöst und sind die Wurzeln, man passt sich an die Gegebenheiten an, hantiert mit dem System. Das Bühneninterieur sieht überhaupt nicht nach damaliger SPD aus. Flankiert von bunt bemalten Wänden ist in der Mitte ein Schwimmbecken, in dem sich die Figuren mitunter tummeln. Das sieht nicht nach sozialem Notstand aus, eher nach der Ankunft in der saturierten Mittelschicht. Da eine Jubiläumsfeier der Glasfabrik ansteht, wird eine längere Szene mit Nixen (Natalia Belitski, Judith Hofmann, Lisa Hrdina) einstudiert. Während Natalia Belitski diesmal nur eine Nebenrolle spielt und bestenfalls ein charmantes Lächeln einsetzen darf, erreichen die Verwendung und Auslastung von Judith Hofmann seit der letzten Spielzeit allmählich einem Höhepunkt. Verbrauchserscheinungen sind nicht festzustellen, nicht einmal latent. Wiederholt treten Arbeiterchöre auf, die Rosa Luxemburg, Liebknecht und den roten Wedding feiern. Jörg Pose als Fabrikdirektor gibt sich in einer ansehnlichen Rede ebenfalls sozialdemokratisch, die Gemüter müssen beruhigt werden, eingelullt und gezügelt, zwecks Einbindung ins System.
Blumen statt Hammer
Die Inszenierung des Regieduos Kuttner/Kühnel ist für die heutige Zeit nicht sonderlich tauglich: Es findet keine Bestandsaufnahme der SPD statt. Seit dem Godesberger Programm von 1959, auf das Kuttner bei seinem obligatorischen Soloauftritt hinweist, ist die SPD Volkpartei geworden und hat sich mit dem Kapitalismus arrangiert. Es fliegen Bomben von SPD-Gnaden und es existiert eine Verarmung durch Hartz IV und Leiharbeit. Aber dennoch kann sich heute ein einfacher Arbeiter einen Teneriffa-Urlaub leisten, im Gegensatz zu den Werktätigen in der Kaiserzeit. Die Schlechtweggekommenen und Abgehängten sind nicht mehr Sache der SPD. Zur Verteidigung der aktuellen weichgespülten SPD lässt sich sagen, dass Kampfparolen zur Einrichtung einer besseren Welt einfach obsolet und antiquiert sind, will man doch die letzten treuen Anhänger nicht verprellen. Man trägt lieber Blumen, der Hammer wurde vergraben. Die Regisseure hingegen karikieren die damaligen Flügelkämpfe, die in der Gegenwart vergleichsweise den Charakter einer überhitzten Grundsatzdebatte in einer Groß-WG angenommen haben. Gut, der Opportunist und "Verräter" Ständer, der seinen Kompagnon Heinrich Flocke (Michael Schweighöfer) in die Chefetage abschiebt, verheizt und dort zugrunde gehen lässt, steht paradigmatisch für Parteifreunde und Politiker, die, unter sozialdemokratischem Deckmantel daherwandelnd, privat ganz anders agieren. Ein gut aufgelegtes Ensemble und originelle Einfälle (z.B. das Schlagerpaar Cindy und Bert, das auf Video ein Lied von Black Sabbath singt) retten die Inszenierung und heben sie auf ein ansprechendes Niveau. Eine Mischung aus Langeweile und guter Unterhaltung.
Tabula rasa: Gruppentanz und Klassenkampf
nach Carl Sternheim
Regie: Tom Kühnel /Jürgen Kuttner, Bühne: Jo Schramm, Kostüme: Daniela Selig, Musik: Michael Letz, Dramaturgie: Claus Caesar, Licht: Matthias Vogel, Live-Video: Kristina Trömer, Marlene Blumert.
Mit: Natalia Belitski Felix Goeser, Christoph Franken, Judith Hofmann, Lisa Hrdina, Michael Schweighöfer, Jürgen Kuttner, Daniel Hoevels, Jörg Pose, Michael Letz (Musik) sowie: Chor der Freischwimmer der Glaswerke Rodau.
Premiere vom 11.September 2014
Dauer: 140 Minuten, keine Pause
Bildquelle:
Ruth Weitz
(Lilli Chapeau und ihr kleinstes Theater der Welt in Miltenberg)