Deutsches Theater

© Steffen Kassel

 

Rationale und moralische Beweisführungen

Zu diesem Behuf gibt es eine Gerichtsverhandlung. Die Bühne ist karg, die am Prozess Beteiligten sitzen auf einfachen Stühlen oder reden stehend, im Hintergrund ist ein Minimalwaschbecken installiert. Auf der Bühnenwand flimmern Videobilder, die einiges zur Untermalung und Dramatisierung der Katastrophe beitragen sollen. Reine Stimmungsbilder, die die Schlichtheit der Inszenierung aufhellen und das Illustrationsbedürfnis befriedigen. Auf der Bühne regiert das Wort, besser: Der Austausch von angeblich unwiderlegbaren Argumenten und Beweisführungen. Franziska Machens als Staatsanwältin plädiert natürlich für das unanfechtbare Gesetz, und das duldet keinen Mord, nur um andere Morde zu verhindern. Außerdem: Hätte das Stadion nicht vorher evakuiert werden können? Das ist eine organisationstechnische Frage, die zu weiteren Rechnungen führt. Nun, zeitlich wäre das gar nicht möglich gewesen, doch das interessiert die eminent sachliche, moralisch uninteressierte Staatsanwältin nicht weiter. Die Vorsitzende (Almut Zilcher) leitet das hochjuristische Verfahren mit unbewegtem Gesicht, so weit das möglich ist. Die mit verhaltener Glut agierende Verteidigerin (Aylin Esener), die einzige emotionale Bereicherung der Aufführung, kapriziert sich in ihrem bewegten Plädoyer auf Moral und Gewissen. Und der von Timo Weisschnur gespielte Lars Koch? Nun, der sitzt da wie die Verkörperung der instrumentellen Vernunft und fühlt sich auf der menschlichen Seite, obwohl er im Redefinale leicht ins Schwanken gerät.

 

Das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl oder auch nicht

Derartige Rechnungen sind nicht neu, auch nicht in der Literatur. Dostojewskis Raskolnikow hat in "Schuld und Sühne" in seinen Reflexionen einen Mord an einer wohlhabenden Frau gerechtfertigt, um damit hundert arme Menschen am Leben zu erhalten. Wer in den 80er-Jahren in Westdeutschland Philosophie studierte, stieß unter anderem auf den australischen Moralphilosophen Peter Singer, der ähnliche Fragestellungen aufgeworfen hat, was in der Berliner FU sogar zu einem kleinen Aufstand führte. Hier sind wir schnell bei den englischen Utilitaristen des 19. Jahrhunderts angelangt: Das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl. Das Thema ist alt – trotzdem erhitzt es immer wieder die Gemüter. Der clevere Autor Ferdinand von Schirach konnte also mit einer die politischen Aktualitäten betreffenden Aufwärmung nicht falsch liegen. Die emotionale Beteiligung der Zuschauer ist ihm sicher. Kein Wunder, dass am Ende die Zuschauer zur Abstimmung aufgerufen werden, indem sie jeweils eine Tür für schuldig oder unschuldig betreten können. Die Schuldig-Fürsprecher sind entweder forcierte Menschenfreunde, die keinen einzigen Mord dulden, oder eben unverfängliche Justizanhänger. Es wundert nur, warum die kühle Staatsanwältin, der seltsamerweise von der Regie ein cholerischer Ausbruch gestattet wird, nicht die kapernden Terroristen ins Rechnungsspiel einbezieht. Die gehören nicht zu den 164 Passagieren, sie stehen auf keiner Justizliste und wurden ebenfalls ermordet. Klar, sie sind "gemeingefährliche" Kriminelle – aber rein juristisch gesehen wurden sie präventiv kaltblütig ermordet. Rein juristisch gesehen war vielleicht alles nur ein aufmerksamkeitsheischendes Medienspektakel, möglicherweise hätten die Entführer ihre Meinung geändert und über dem Stadion eine Friedensbotschaft abgeworfen. Die kaum gespielte, dünn inszenierte Wortgefechtsdebatte ist im Grunde die Inszenierung eines moralphilosophischen Hochschul-Seminars. Die Crux, das sind die Gesetzeslücken. Die Fragwürdigkeit des Urteils, egal wie es ausfällt. Der finale, gesetzlich abgesicherte Entscheidungsversuch ist nur Nebensache. Das Drama, das bald in nicht wenigen Theatern Premiere feiert, wird seinen Weg machen. Dazu bedarf es keiner kühnen, lebendigen Inszenierung, der Inhalt reicht.

Terror
von Ferdinand von Schirach
Uraufführung
Regie: Hasko Weber, Bühne: Thilo Reuther, Kostüme: Camilla Daemen, Video: Daniel Hengst, Licht: Heimhart von Bültzingslöwen, Dramaturgie: Ulrich Beck.
Mit: Aylin Esener, Almut Zilcher, Timo Weisschnur, Franziska Machens, Helmut Mooshammer, Lisa Hrdina.

Deutsches Theater Berlin

Premiere vom 3. Oktober 2015

Dauer: 120 Minuten, eine Kurzpause

 

Laden ...
Fehler!