Maike Knirsch, Felix Goeser, Franziska Machens

© Arno Declair

 

 

Die Meinungen gehen zu stark auseinander

Was man dieser großartigen Inszenierung von Jette Steckel vorwerfen kann, ist die fortwährende, die gesamte Inszenierung durchziehende Konfrontation zwischen den ideologischen Widersachern Hoffmann (Felix Goeser) und Alfred Loth (Alexander Simon). Die Meinungen sind verfestigt, nahezu unerschütterlich, ja zementiert, das erübrigt sich jeder Annäherungsversuch, der an die alte Freundschaft zu appellieren sucht. Immerhin, man geht einigermaßen zart miteinander um, Goeser spielt seinen kapitalistischen, zusätzlich mit reaktionären Elementen durchsetzten Pragmatiker nicht aufbrausend, mit kühner Verhaltenheit und diplomatischen Versuchen, aber kleine Spötteleien klingen immer wieder durch. Warum kommt Loth immer wieder? Er hat den Kampf des Humanismus und der Idealisierung nicht aufgegeben, wird aber nach anfänglicher Zurückhaltung immer fordernder. Mit Egon Krauses Tochter Helene aus erster Ehe (Maike Knirsch) beginnt er zu flirten, serviert sie dann aber kalt ab, zumal er bei der Empfindlichen, aber zu wenig Empfindsamen einen Hang zum Abgrund vermutet. Von pessimistischer Einstellung, ja Hoffnungslosigkeit ist vor allem die ältere Schwester Martha (Franziska Machens) geprägt, die als Gattin Hoffmanns in "freudiger Erwartung" wartet - das Kind soll daheim geboren werden - und einen Depressionschub nach dem anderen erlebt. Die einzige Person, die den fragilen familiären Zusammenhalt bewerkstelligen könnte, ist Egons zweite Frau Annemarie, zwischen Realitätssinn, Kraft und Zimperlichkeit hin- und herpendelnd. Regine Zimmermann dreht groß auf – letztlich kann sich ihre Figur nicht gegen die patriarchalischen Strukturen durchsetzen.

 

Innerliche Kaputtheit der scheinbar Erfolgreichen

Das Bühnenbild (Florian Lösche) ist äußerst karg, die ganze Zeit über befinden sich die unter fahlem Licht agierenden Schauspieler*innen auf einer Drehscheibe, die relativ langsam ihre Kreise zieht. Ein riesiges Paket taucht auf, das ein Sideboard beinhalten könnte, aber mit einem Weinglas-Motiv versehen ist: Wahrscheinlich eine gewaltige Wein-Bestellung von Papa Krause. Dieses rechteckige Riesenpakt fungiert zuweilen als Mehrzweckobjekt, als Tisch und als Unterlage für alles Mögliche – ein gelungener Einfall. Man nehme gewöhnliche Dinge und erzeuge ungewöhnliche Wirkung. Eine fast leere Bühne liefert normalerweise einen physischen und gestischen Freiraum für die Schauspieler*innen: Und der wird auch genutzt. Selten wird im Theater die innerliche Kaputtheit einer äußerlich geachteten, weil materiell erfolgreichen Kleinsippe so kristallin dargestellt und herausgefiltert, hier passen sogar Form und Inhalt. Jette Steckel, die sich in ihren "alten" Inszenierungen bei den begleitenden Soundtracks atmosphärisch gelegentlich ein bisschen verhebt hat, trifft diesmal die richtigen Töne. Gewiss, es gibt einige Durststrecken und kleinere Unstimmigkeiten. Doch unterm Strich ist es eine inszenatorisch und schauspielerisch große Kulturleistung ohne Leistungsdenken.

 

Vor Sonnenaufgang
von Ewald Palmetshofer

nach Gerhart Hauptmann
Regie: Jette Steckel, Bühne: Florian Lösche, Kostüm: Sibylle Wallum, Musik: Mark Badur, Dramaturgie: Anika Steinhoff.
Mit: Regine Zimmermann,Timo Weisschnur, Maike Knirsch, Felix Goeser, Michael Goldberg, Alexander Simon,Franziska Machens.

Deutsche Erstaufführung: Ruhrfestspiele Recklinghausen 10.5.2018

Berlin-Premiere: DT-Kammerspiele 9.9.2018
Dauer: 2 Stunden 25 Minuten, keine Pause

 

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