Deutsches Theater Berlin: Kritik von "Woyzeck" – Sebastian Hartmann
Premiere. Der Regisseur Hartmann bringt das Fragment von Georg Büchner sehr unkonventionell auf die Bühne. Nur zwei Personen kämpfen sich mühevoll durch die Szenenfolge.Entfesselte Liebe wie am ersten Tag
Plakat der Aufführung
Gespielt wird in einem schachtartigen Kasten, der, ganz in Schwarz eingetaucht, den Charakter einer entweihten Gruft erzeugt. Das Erscheinen von Katrin Wichmann und Benjamin Lillie wird begleitet von Geigenmusik, die Christian Mäcki Hamann beisteuert. Ein beachtenswertes Präludium, eine Atmosphäre schaffend, einen Freiraum, der, von einer gleichsam erhabenen Spannung getragen, automatisch eine Erwartungshaltung hervorruft. Und hier sind sie nun, die beiden Akteure, die ein Feld von fast 30 Personen zu beackern haben und ganz allein auf sich gestellt sind, hineingestellt sind in Düsternis und Kahlheit und Abgeschiedenheit. Ohne Umschweife fallen die beiden übereinander her, das ist wie Liebe am ersten Tag oder nach einer verordneten Zwangspause, entfesselt und hemmungslos, eine unkontrollierte Liebesentladung, die zwischen Knutschen und Kneifen, zwischen Zärtlichkeit und Ringen hin- und herpendelt.
Widerborstiges Genitalsystem
Wer was spricht, ist Nebensache, die zwei Schauspieler tauschen gelegentlich die Rollen, absolvieren das komplette Programm beziehungsweise das, was sich Hartmann willkürlich davon herausgreift und als erwähnenswert erachtet. Ja, auch der befehlsgewohnte Hauptmann findet Eingang, er wird ebenso abgehakt wie der experimentierfreudige Arzt, der als Kommandeur par excellence zum jähen Austreten auffordert. Doch der Tank ist nur schwach gefüllt, Woyzeck hat sich zuvor schon erleichtert, nun steht er nackt da und gibt seinem widerborstigen Genitalsystem barsche Befehle, die ungehört versanden. Glatte Dienstverweigerung, leider macht Hartmann aus dieser Lappalie ein Riesenszenarium, um den Blick völlig umzukrempeln. Ohnehin konzentriert sich der Apologet der Einzelheiten, der mit diesem Werk gewiss nicht in das Pantheon der Theatergeschichte aufgenommen wird, auf einige Passagen, die er uferlos ausbreitet, bis sie auch den letzten Reiz einbüßen. In einer Sequenz wirft Katrin Wichmann mit hysterisch sich überschlagender Stimme Textbrocken in den Raum, Lillie übersetzt sie dann in eine Phantasiesprache, die, anfangs noch lustig, irgendwann wegen Überdehnung auf den Wecker geht.
Der Regisseur kommt mit überraschend wenig Bildern aus
Wenig Platz räumt Hartmann diesmal seiner Ästhetik ein, schließlich ist er ein routinierter, einfallsreicher Stimmungserzeuger, der mit schillernden Bildern viel ausrichten kann und dadurch missratene Spielansätze und angedeutete Deutungen zu Marginalien herabstuft. Irgendwann rückt ein farbig beleuchteter Blätterwald in den Vordergrund und erobert die Bühne, untermalt vom dramatischen, grandiosen Geigeneinsatz Hamanns. Doch das ist zu wenig, das Schwergewicht liegt eindeutig auf den Liebenden, bei denen in einer Art Dauerumklammerung die Grenzen zwischen Liebe und Raserei verwischen. Sie haben einen Kampf auszufechten, ohne Anfang ohne Ende, es sei denn, der Tod trennt sie voneinander, endgültig und unauslöschlich. Mitunter wird der Eindruck erweckt, als mischten sich zarte SM-Elemente hinzu, um dem Treiben mehr Würze und Pikanterie zu verleihen.
Unersättliche Experimentierlust
Offensichtlich hatte Hartmann im Sinn, die rohe Urkraft des Menschen darzustellen, der frei von rationalen Erwägungen handelt, scheinbar motivlos und ohne äußeren Anschub. Aber warum hat er sich für seine "Studie" des ursprünglich Animalischen ausgerechnet den "Woyzeck" als Vorlage ausgesucht? Für seine Erkundungen gibt es genug andere Spielplätze, die seine unersättliche Experimentierlust befriedigen könnten. Beim Vorhaben, das Personal des Dramas zu entschlacken, wurde auch gleichzeitig das Gehirn des Regisseurs entschlackt, in einem Maße, dass am Ende etwas Reduziertes, im Rohzustand Belassenes herauskommt. Die Verkörperung des Ur-Wesens oder der reinen, irrationalen Natur des Menschen reicht nicht dafür aus, um als Schrittmacher innovativer, bahnbrechender Impulse daherzuwandeln. Deshalb auch die Füllsel, der dazwischengeschobene "Lenz" Büchners und Heiner Müllers "Bildbeschreibung". Immerhin markieren die Anfänge von "Lenz" einen kleinen Aufwecker, aber nicht alle Zuschauer sehen das so. Als die Stellen "Nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte" und "Er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen" erklingen, verlassen einige enervierte Zuschauer den Saal. Und das Anhängsel "Bildbeschreibung" wirkt wie eine sinnlose Aufbauschung. Etwas ratlos geht man nach Hause, mit einem Gefühl der Unzufriedenheit, wie nach etwas Unfertigem.
Woyzeck
von Georg Büchner
Regie und Bühne: Sebastian Hartmann, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Musik: Ch. 'Mäcki' Hamann, Video: Voxi Bärenklau, Dramaturgie: Juliane Koepp, Ton: Martin Person.
Mit: Katrin Wichmann, Benjamin Lillie und Christoph 'Mäcki' Hamann (Musik).
Premiere vom 3. Oktober 2014
Dauer: ca. 100 Minuten, keine Pause
Bildquelle:
Ruth Weitz
(Lilli Chapeau und ihr kleinstes Theater der Welt in Miltenberg)