Sehnsucht nach Normalität

Die Bühne ist kahl, lediglich ein langer Steg erzeugt Nähe zum Publikum, zumal sich Susanne Wolff gern ganz vorne aufhält, bis ihre Turnschuhe vor dem Abgrund stehen. Aus einem schwarzen Loch heraus jaulen einige Hunde, sie geben bizarre Geräusche von sich, als habe man ihnen eine Büchse an den Schwanz gebunden. Es sind Todeshunde, deren schräger Lärm aus der Ferne widerhallt. Den letzten beißen die Hunde, aber bei der Regisseurin Lot Vekemans sind es Schutzhunde. Ismene versteht sich als die einzige Normale in einer gestörten Familie, und diese Sehnsucht nach Normalität merkt man bei jeder Lebensäußerung, bei jedem Hauch. Gestörte Familie? Nun, zumindest die Eltern konnten nichts für die Irrungen und Wirrungen, sie sind Opfer des unbarmherzigen Schicksals. Leider ist nichts zu spüren von ‚amor fati', sie haben ihren Kindern das Leben geschenkt, aber es waren quasi Danaergeschenke.

 

Weiblicher Underdog mit Zähnen

Ismene, ein unbeachtetes Schattenkind, das nie zwischen den Schatten steht, versucht sich zu rechtfertigen. Hart und präzise und konsequent schleudert sie ihre Worte ins Publikum, das mitunter angesprochen wird. Der Monolog greift über zu einem Pseudo-Dialog – natürlich schweigt das Publikum. Aber es wird tief hineingerissen ins im Grunde traurige Geschick eines Durchschnittmenschen, der nichts anderes sein möchte. Man hat Ismene zu gar nichts berufen, sie hat keine Gelegenheit, geschichtsträchtige und mythenbeladene Heldentaten zu verrichten. Susanne Wolff zeigt keinerlei Weinerlichkeit, ihr Gesicht ist ernst und konzentriert. Sie redet wie eine Frau, die trotz der extrem schmalen Beachtung weiß, was sie will. Unter den Händen von Susanne Wolff wird Ismene zu einer relativ starken Figur, die derart aufdreht, dass man beinahe geneigt ist, ein komplizenartiges Bündnis mit ihr einzugehen. Ein weiblicher Underdog mit Zähnen.

 

Ganz ohne Rachegefühle

Anders als Antigone stellt sie sich nicht gegen ihren Onkel Kreon, obwohl er ihre Familie ins Unglück gestoßen hat. Sie kümmert sich um ihren letzen Verwandten, ganz ohne Rachegefühle, ohne revanchistische Gedanken. Die Regisseurin Lot Vekemans präsentiert ein edles Herz, das bestenfalls durch Nichthandeln auffällt, doch sich hier zu großen Alltagstaten aufschwingt. So gewinnt Ismene etwas Würde zurückt, was ihr zeitlebens versagt blieb. In diesem Rahmen hat sie sich ihr Leben vorgestellt, unheroisch, aber den Alltag meisternd. Nur wollen sich die Gesichtszüge nicht aufhellen, zu groß ist der Drang zur verspäteten, finalen Rechtfertigung. Susanne Wolff spielt ihre Rolle ein wenig zu kraftvoll, überzeugt jedoch auf der ganzen Linie. Tobender Applaus in den Kammerspielen, wie seit Längerem nicht mehr. Nun hellen sich die Gesichtszüge der Darstellerin auf, sie strahlt förmlich, und das mit Recht. Bedauerlicherweise lässt sich John von Düffel, der Dramaturg, nicht blicken.

Ismene, Schwester von

Von Lot Vekemans

Deutsch von Eva Maria Piper

Regie: Stephan Kimmig, Dramaturgie: John von Düffel, Bühne und Kostüme: Anne Ehrlich, Licht: Ingo Greiser.

Es spielt: Susanne Wolff

Deutsches Theater Berlin

Berlin-Premiere vom 21.März 2014

Dauer: ca. 65 Minuten

Fotos: © Steffen Kassel

 

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