Aufführungsplakat

© Steffen Kassel

 

Fleischesserin im veganischen Restaurant

Der Bühnenboden und die seitlich postierten Regale sind mit Schutzhüllen bedeckt. Es sieht aus wie daheim bei Oblomow, eine behagliche Atmosphäre will gar nicht erst aufkommen, denn alles ist Notbehelf, Provisorium und Plastik. Es scheint purer Masochismus zu sein, dass sich diese Nomaden ausgerechnet in die Hochburg des ungedrosselten Kapitalismus vorgewagt haben, wo das Gefühl der Entfremdung seinen Gipfel erreicht hat. Nur Kryštof (Daniel Hoevels), auftretend als schwach dosierter Spät-Hippie mit kontrollierter Nudismus-Neigung, ist von der neuen Umgebung etwas fasziniert. In einem veganischen Restaurant lernt er Emmy (Franziska Machens) kennen, die als Fleischesserin den Ort einfach nur hip findet. Vom Gebrauch der Wörter bis zum Gebrauch der Sexualwerkzeuge ist der Schritt nur ein kleiner. Kryštof mag es exklusiv von hinten und Emmy mag einfach nur aus dem Leben treten. Dieser zweifelhafte Vernichtungsritt hätte sie beinahe die Schwelle übertreten lassen. Die Regisseurin Andrea Moses arrangiert das so harmlos, als plauderten zwei Geschwister auf einer Couch über eine Lebensversicherung.

 

Nihilistische Schatten

Die sinnliche Vereinigung zweier Menschen, eigentlich ein Hochgefühl, ist bei Wyrypajew offensichtlich negativ konnotiert. Ständig baut er selbst an den falschesten Stellen das Wort "verfickt" ein, als komme es im Verbund mit der Fäkalsprache besonders gut zur Geltung. Aha, die Figuren sind keine Intellektuellen, sie denken nur ein bisschen viel und wer viel denkt, hat viele Probleme. Dunkle Schopenhauer-Wolken ziehen heran und werfen nihilistische Schatten. Aber der Glaube an das Nichts ist immer noch ein Glaube. Es ist eine alte Romantiker-Sehnsucht: Das Eintauchen in die Unendlichkeit, die von zarter Melancholie umwobene Verschmelzung mit der nicht greifbaren Ewigkeit. Diese Figuren haben ihren kosmischen Takt verloren, aber nicht ihre Sehnsucht. Angesichts des relativ tumben Personals ist aber alles nur ein schwammiges Gefühl, das nicht auf geistiger Durchdringung beruht. Die vier Personen plagen sich mit ihren Alltagssorgen herum, ihr Verlangen nach einer anderen Welt resultiert nur aus der Ablehnung der gegebenen. Es sind keine metaphysischen Existenzen, sondern Zivilisationsmüde, die in einem geistigen Vakuum versanden.

 

Fremde Stimmen führen ins Jenseits

Charlie (Moritz Grove) und Monika (Julia Nachtmann) sind wie die beiden anderen ein bodenständiges Paar, dem der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Ein Maschinengott aus einer anderen Galaxis nimmt sich ihrer an: Die Transzendenz in der Immanenz. Da die molochgeplagten Touristen sich nicht eine Stätte aussuchen, wo es weniger zivilisiert und "natürlicher" zugeht, werden sie von fremden Stimmen geleitet, die nur das Problem haben, dass sie nicht sonderlich scharfsinnig sind. Kryštof kämpft mit dem Bild einer Schlange, die ihn zu erwürgen droht. Die scheinbar allmächtigen Stimmen haben nicht mehr zu bieten als eine Irrfahrt, die, dirigiert von einem blauen Punkt, durch die Hölle führt. Ist sie eine Vision von Hieronymus Boschs jüngstem Gericht, mit Dämonen und Fabelwesen? Am Ende der nicht geschilderten oder bebilderten Odyssee finden alle den friedlichen Tod - sie zerfallen wie Schneeflocken - und können in eine andere Galaxis entschweben. Thema und Ansatz der Inszenierung sind recht interessant, aber es fehlt die poetische Kraft, die den teilweise platten Dialogen mehr Leben einhauchen würde. Das Ganze wirkt wie eine Vorlage, die nicht richtig ausgearbeitet wurde. Immerhin bleibt etwas Denkstoff übrig.

Unerträglich lange Umarmung
von Iwan Wyrypajew
Übersetzung von Stefan Schmidtke
Regie: Andrea Moses, Bühne: Rebecca Ringst, Kostüme: Svenja Gassen, Musik: Harald-Christoph Thiemann, Dramaturgie: Claus Caesar.
Mit: Franziska Machens, Daniel Hoevels, Moritz Grove, Julia Nachtmann.

Deutsches Theater Berlin

Uraufführung vom 5. März 2015
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

 

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