Die Märchen der Gebrüder Grimm – Entstehung und Herkunft
Märchen erfreuen sich seit jeher großer Beliebtheit, und am bekanntesten sind sicherlich die der Gebrüder Grimm. Weniger bekannt ist, wie und unter welchen Prämissen sie entstanden.Die Unterscheidung zwischen Volks- und Kunstmärchen
Die Literaturwissenschaft unterscheidet zwischen Kunstmärchen und Volksmärchen: Erstere sind literarischen Ursprungs, also einem bestimmten Autor zuzuordnen und in einem kunstvollen Stil verfasst. Lediglich hinsichtlich von Motiven und Stoffen greifen sie auf das ältere Volksmärchen zurück. Diesem spricht man einen Ursprung im Volk zu – wichtigste Kriterien des Volksmärchens sind mündliche Überlieferung und eine einfache Sprache. Als eine ihrer bekanntesten Vertreter gelten die Gebrüder Grimm mit ihren Märchensammlungen. Doch bereits vor ihnen wurden Märchen in Sammlungen veröffentlicht.
Erste Märchensammlungen: Die Sammler Straparola, Basile und Perrault
Als erster Sammler von Volksmärchen gilt der Italiener Giovan Francesco Straparola, der um 1550 einige der mündlichen Tradition entnommene Texte veröffentlichte. 1634/36 erscheint das Märchenbuch "Pentamerone" von Giambattista Basile. Und die Vorbilder vieler "deutscher" Märchen wie "Hänsel und Gretel", "Rotkäppchen" oder "Der gestiefelte Kater" finden sich in den französischen Sammlungen (1694/1697) von Charles Perrault. Aber auch die Feenmärchen der Madame d'Aulnoy und die französische Übersetzung der Märchen von 1001 Nacht wirken in die deutsche Märchentradition.
Musäus "Volksmärchen der Deutschen" und das Kunstmärchen um 1800
Johann August Musäus publiziert in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erstmals – stark bearbeitete – "Volksmärchen der Deutschen". Die Sammlung vom Autor stark bearbeiteter und humoristisch aufbereiteter Stoffe (Märchen unterschiedlicher Herkunft, aber beispielsweise auch Chroniken und Sagen) wird zu einem großen Erfolg.
Um dieselbe Zeit wurden die ersten deutschen Kunstmärchen verfasst, und nach 1800 erlebte die neue Gattung mit Werken von Eichendorff, Tieck und E.T.A. Hoffmann einen regelrechten Boom. Gleichzeitig nahm das Interesse am Volksmärchen in der Romantik stark zu.
Die Gebrüder Grimm: Clemens Brentano und das Märchen in der Romantik
Die Begeisterung für das im einfachen Volk verankerte "Ursprüngliche" und "Echte" sowie das Wunderbare und Übernatürliche rückte das Volksmärchen in den Fokus der Romantiker und machte auch vor den Gebrüder Grimm nicht halt: Ab 1806 arbeiteten Jakob und Wilhelm Grimm an der Liedersammlung "Des Knaben Wunderhorn" von Clemens Brentano und Achim von Arnim mit. Bei der Recherche alter Lieder stießen sie immer wieder auf Märchentexte, die sie zunächst im Auftrag Brentanos sammelten. Ihr Interesse hielt über die Vollendung des letzten Wunderhornbandes 1808 hinaus an, und schließlich hatten sie eine Sammlung von 54 Texten – das sogenannte "Urmärchenkonvolut" – zusammen. Diese schickten sie im Frühjahr 1911 an Brentano. Der Dichter blieb jedoch eine Antwort schuldig.
Die Kinder- und Hausmärchen von Jakob und Wilhelm Grimm
Im Folgenden kam es zum Zerwürfnis mit dem ehemaligen Auftraggeber. Doch die Gebrüder Grimm sammelten unverdrossen auf eigene Faust weiter Märchen, und nachdem Achim von Arnim einen Kontakt zu seinem Verleger Georg Andreas Reimer hergestellt hatte, veröffentlichten sie zum Jahresende den ersten Band der Kinder- und Hausmärchen (abgekürzt: KHM). Dieser erschien in einer Auflage von 900 Exemplaren und beinhaltete insgesamt 86 Märchen sowie einen wissenschaftlichen Anhang.
Vor allem Jakob Grimm war der wissenschaftliche Zugang wichtig, obwohl dieser Kritik an der wenig kindgerechten Aufbereitung hervorrief. 1815 folgte der zweite Band mit 70 Titeln, womit sich die Gesamtzahl der Märchen nunmehr auf 156 belief. Nach einer sprachlichen Überarbeitung durch Wilhelm Grimm wurden beide Bände um einige Texte ergänzt und 1819 neu aufgelegt.
Grimmsche Märchen: Kleine Ausgabe mit großem Erfolg
Mit jeder zu seinen Lebzeiten erschienenen Auflage kamen weitere Märchen hinzu, die Ausgabe letzter Hand (1857) umfasst 211 Märchen. Ihre große Bekanntheit erlangten die Kinder- und Hausmärchen durch die sogenannte "Kleine Ausgabe" (1825): Diese enthielt die 50 bekanntesten Texte, wurde vom Grimm-Bruder Ludwig Emil bunt illustriert und zu einem erschwinglichen Preis unters Volk gebracht – sie verkaufte sich prächtig.
Die Entstehungsgeschichte der KHM: Legende und Wirklichkeit
Das Bild der beiden Brüder, die in Hessen von Tür zu Tür ziehen und Märchen sammeln, gehört allerdings ins Reich der Legende: Weder stammen alle Märchen aus dem Volk, noch sind sie alle deutschen Ursprungs, unmittelbar übernommen und selbst gesammelt. Die Grimms bedienten sich vielmehr der Hilfe von Beiträgern – vor allem Frauen wie Dorothea Viehmann, die drei Schwestern Hassenpflug und Friederike Mannel –, welche die Märchen zusammentrugen und an die Brüder schickten.
Lediglich in einem einzigen Fall ist verbürgt, dass Wilhelm Grimm eine mögliche Quelle persönlich aufsuchte. Der Bekanntenkreis der Lieferanten entstammte wiederum dem Bildungsbürgertum, wodurch zahlreiche Märchen französischen Ursprungs unter die Zusendungen gerieten. Zudem war eine starke Vorauswahl gegeben.
Die Gebrüder Grimm: Quellen und Vorbilder
Eine weitere Auswahl erfolgte durch die Gebrüder Grimm selbst. Zwar achteten sie darauf, dass die Märchen der mündlichen Überlieferung entstammten – sicher konnten sie sich dessen allerdings nie sein. Als ideales Vorbild galten ihnen die von dem Maler Philipp Otto Runge aufgezeichneten Texte "Von dem Fischer un syner Frau" (KHM 19) und "Von dem Machandelboom" (KHM47). Wie diese stammt fast die Hälfte der Kinder- und Hausmärchen aus schriftlichen Quellen, wurde von Autoren wie Moscherosch und Hans Sachs oder aus alten Märchensammlungen übernommen. Von einer unmittelbaren Herkunft und Übernahme aus dem Volk kann somit kaum gesprochen werden.
Sprachlicher Schliff durch Wilhelm Grimm
Ganz zu schweigen von der sprachlichen Überarbeitung: Man muss davon ausgehen, dass bereits die Beiträger bei der Aufzeichnung allzu derbe oder anzügliche Passagen kürzten oder zumindest beschönigten. Wilhelm Grimm selbst fügte nicht nur zahlreiche Redensarten ein, er verfasste die Texte in einem eigenen Stil. Dieser orientierte sich lediglich am Volkston, unterschied sich gleichzeitig stark von der gekünstelten Sprache des Kunstmärchens und trug maßgeblich zum Erfolg der Kinder- und Hausmärchen bei.
Originär und "unverfälscht"? Davon kann bei den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm nicht die Rede sein. Das deutsche Volksmärchen beinhaltet ebenso wie die Entstehungsgeschichte eine eigene Mär. Was weder die Leistung der Gebrüder Grimm noch die Schönheit der Märchen schmälert – damals wie heute erfreuen sie (nicht nur) Kinderherzen und sind zu einem unverzichtbaren Bestandteil unserer Kultur geworden.
Hier findet sich eine Liste der Grimmschen Märchen.
Bildquelle:
W. Zeckai
(Wie macht man eine Lesung erfolgreich?)