Die Schrift, eine Menschheitserfindung

Es gibt zwei Orte auf der Welt, in denen die Schrift mit Sicherheit völlig ohne Inspiration von außen entstand, das sind Mesopotamien und Mittelamerika. Sehr wahrscheinlich ist es auch in China, und in Ägypten ist es zumindest noch gut möglich. Alle anderen Schriftkulturen der Welt haben zumindest die Idee, dass so etwas möglich sein könnte, von außen erhalten. Danach haben sie selbst zu forschen begonnen und im Lauf von Jahrhunderten eine Schrift entwickelt, die im weiteren Verlauf vieler weiterer Jahrhunderte dann auch ganz brauchbar wurde.

Es gab einen einzigen Fall auf der Welt, in dem ein einziges Menschenleben ausreichte, um von der ersten Idee zu einer funktionierenden Schrift und deren weiter Verbreitung zu gelangen. Der Mensch, dem dies gelang, war ein Cherokee-Indianer namens Sequoyah, und er lebte im frühen 19. Jahrhundert.

Die Idee des Lesens und Schreibens

Zu seiner Zeit galten die Cherokee als "gute Indianer", die mit den amerikanischen Siedlern an der Ostküste Nordamerikas in Frieden lebten. Tatsächlich hatten sie sich weit angepasst.

Cherokee-Häuptling John Ross

John Ross, a Cherokee Chief (Bild: Thomas Loraine Mckenney)

Sequoyah war Silberschmied. Als solcher hatte er bereits die Grundlagen für seine spätere Erfindung gelegt: Er führte Listen über seine Kunden, die er jeweils mit einem Bildchen kennzeichnete. Für die Schulden, die sie bei ihm hatten, hatte er sich ein System von Kreisen und Wellenlinien ausgedacht, mit denen er sie festhielt - ähnlich den Kürzeln auf einem Bierdeckel, mit denen ein Kneipenwirt Buch führt über die Ausstände seiner Stammkundschaft.

Dann geschah es, dass er bemerkte, wie die Weißen bei ihren Reden einen Zettel zu Rate zogen, auf dem sie offenbar festgehalten hatten, was sie sagen wollten. Das schien ihm eine sehr sinnvolle Einrichtung zu sein, und er beschloss, das er für sein Volk auch so etwas haben wollte. Er sprach keine Englisch, hatte der Rede vermutlich verständnislos beigewohnt und sich stattdessen auf das Verhalten der Redner konzentriert.

Von der Idee zur Erfindung der Schrift

Nun setzt die Erfindung einer Schrift ein großes Abstraktionsvermögen voraus. Was der naive Hörer wahrnimmt, wenn er einen Menschen sprechen hört, ist ja erstmal ein ganzes Bündel von Sinneseindrücken. Da gehören Mimik und Gestik zu, Laute und Sprachmelodie, Betonung und Lautstärke. Bei manchen Sprechern ist es auch die Ausstrahlung, die sie überzeugend sein lässt, jenseits der gesprochenen Worte. Es gehört der gesamte Eindruck dazu, den man von einer Person hat, von ihrem Aussehen und ihrer Kleidung bis zu ihrer Körperspannung, ihrem Benehmen, ihrem Geruch.

Aus diesem Bündel von Sinneseindrücken, das zunächst als ein Gesamteindruck daherkommt, muss nun das herausgesondert werden, was festgehalten werden soll. Dass wir Notierungssysteme gefunden haben für die Worte und für die Melodie und den Rhythmus, scheint zunächst einmal durchaus willkürlich. Der erste Schritt auf dem Weg zur Schrift, der uns heute so selbstverständlich erscheint, ist vielleicht der schwierigste: Die Entscheidung für die gesprochenen Wörter, unabhängig von Aussprache oder Dialekt.

Der Entschluss, eine Schrift erfinden zu wollen - nur weil man gesehen hat, dass andere so etwas haben -, hat etwas Größenwahnsinniges.

Vom Bild zum Logogramm

Was Sequoyah zu diesem Zeitpunkt, vermutlich um 1810, bereits hatte, war die erste Idee, die Vorstufe eines Logogramms: ein Bildchen für eine Person. Es war außerdem eine eigene Methode des Aufschreibens von Zahlen.

Ähnlich hatten auch mesopotamische Bauern Buch geführt über ihre Schafherden und ihre Getreidevorräte. Und natürlich standen Sequoyah, anders als den ursprünglichen Erfindern der Schrift, bereits Papier und Tinte zur Verfügung.

Zunächst ging er von der Idee des Malens aus weiter. Er erfand Bilder für Gegenstände des täglichen Lebens. Dass er damit nicht weit kommen würde, war aber bald klar; sie waren zu kompliziert zu zeichnen. Also musste er sie abkürzen.

Der Cherokee Sequoyah

Sequoyah (Bild: Thomas Loraine Mckenney)

... über die Hieroglyphen ...

Als nächstes erfand er eine abstrakte Wörterschrift, wie die ägyptischen Hieroglyphen eine sind. Aber auch die hatten sich - allerdings nach Jahrhunderten - als ungenügend herausgestellt; für abstrakte Hauptworte lassen sich schlecht Bildkürzel zeichnen, und mit anderen Wortarten tut man sich erst recht schwer. Die ägyptischen Hieroglyphen ebenso wie die mesopotamischen Keilschriftwörter hatten deshalb Zusätze bekommen, die das ganze System immer komplizierter gemacht hatten.

... zum Alphabet

Auch Sequoyah musste das feststellen, als er mehrere tausend Zeichen erfunden hatte, kein Ende abzusehen war und die Schwierigkeiten sich häuften. Und er tat den Schritt, den die Ägypter über Jahrtausende nicht geschafft hatten: Er verwarf all seine schönen Zeichen und fing noch einmal von vorne an. Diesmal versuchte er es mit einer Silbenschrift. Er hatte festgestellt, dass sich Worte zusammensetzten aus einer überschaubaren Anzahl unterschiedlicher Laute.

Nun hat die Sprache der Cherokee den Vorteil, dass sie nur eine begrenzte Anzahl von Silben kennt und auch keine neuen gebildet werden können. Deshalb ist für diese Sprache eine Silbenschrift sehr gut geeignet, während sie sich bei anderen Sprachen ebenfalls als sehr kompliziert erwiesen hat.

Das Alphabet der Cherokee

Cherokee Alphabet Developed by Sequoyah (Bild: 4233002)

Die Cherokee lesen, schreiben - und drucken

Sequoyah musste nun nur noch seinen Volksgenossen genau aufs Maul schauen, alle möglichen Silben heraushören und dafür jeweils ein Zeichen finden. Vermutlich war dieser letzte Schritt der einfachste: Ihm stand eine Fibel zur Verfügung, aus der er einige Zeichen entnahm. Das tat er recht willkürlich. Wir finden in seiner Schrift Groß- und Kleinbuchstaben, kopfstehende Buchstaben und Ziffern. Andere Zeichen erfand er selbst. Insgesamt hat er 85 Silben des Cherokee identifiziert und 85 Zeichen dafür er- oder gefunden. Um 1820 war er fertig.

Sein Volk nahm seine Erfindung begeistert auf. Die Cherokee wollten gerne "gute Indianer" sein und ahmten die Weißen in vielem nach. Binnen weniger Jahre war das ganze Volk fast zu 100 Prozent alphabetisiert.

Aber sie hielten sich nicht lange auf mit dem reinen Lesen und Schreiben: Die Cherokee kauften sich eine Druckmaschine und ließen ihr Alphabet in Lettern gießen. Sie schrieben Bücher und druckten sie selbst, in ihrer eigenen Schrift. Sie gaben sich selbst eine Verfassung und druckten sie, und sie begannen damit, eigene Zeitschriften herauszugeben. Und all das geschah noch zu Lebzeiten des Erfinders Sequoyah. Damit ist er mit weitem Abstand unangefochtener Rekordhalter unter allem Schrifterfindern der Menschheitsgeschichte.

Seine Schrift wird bis heute verwendet; das Titelbild von Chad K. zeigt die Filiale der Bank of America in Tahlequah, Oklahoma.

Cherokee-Buch im Museum (Bild: Jacqueline Poggi bei flickr.com)

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