Eine Zeitreise durch die Geschichte der Geschlechter
Geschlechterfragen sind wieder "in", egal ob in Politik, als beliebter Aufhänger für Commedy Shows oder beim Klamottenkauf. Doch welche Gedanken machten sich unsere Vorfahren dazu?Das 12. bis 16. Jahrhundert: fließende Grenzen
Betrachtet man beispielsweise Westeuropa, so war im 12. Jahrhundert noch keine Rede von zwei Geschlechtern – laut gesellschaftlichem Konsens existierte lediglich eins. Dieses eine Geschlecht hatte jedoch verschiedene Ausprägungen, wobei unterschieden wurde, ob die Geschlechtsorgane wie bei Frauen nach innen oder wie bei Männern nach außen zeigen. Somit war eine Frau ein invertierter Mann und ein Mann eine extrovertierte Frau.
Es soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass die Geschlechtsinterpretation der damaligen Zeit durchaus eine negative Konnotation beinhalten konnte: Frauen wurden auch als unvollkommene, unvollständige Kopien von Männern angesehen.
Weiterhin spielten Körperflüssigkeiten und Temperaturen eine Rolle. So galten Frauen als kalt und feucht, Männer als heiß und trocken. Da sich diese Eigenschaften verändern können, zum Beispiel eine höhere Körpertemperatur durch Erkrankung, waren auch hier die Grenzen zwischen Mann und Frau eher fließend als zwei klar voneinander abgegrenzte Kategorien.
Die Ansicht, dass Männer und Frauen nicht etwas grundsätzlich Verschiedenes sind, hielt sich bis ins 16. Jahrhundert.
Das 17. Jahrhundert: aus eins wird drei
Im Verlauf des 17. Jahrhunderts rückten zunehmend die Unterschiede in den Vordergrund, was ein Überdenken des gängigen Konzepts zur Folge hatte. Das überraschende Ergebnis: aus dem einen Geschlecht wurden plötzlich drei. Männer, Frauen und Hermaphroditen.
Bei Hermaphroditen handelte und handelt es sich um Menschen, die weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht eindeutig zugeordnet werden können. Der Grund hierfür liegt in uneindeutigen Genitalien oder einer fehlenden Übereinstimmung zwischen dem genitalien-inneren und äußeren, gonodalen, hormonellen und genetischen Geschlecht.
Das 17. Jahrhundert hielt noch eine weitere Überraschung bereit: die Beschäftigung mit dem Thema Gender. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde das soziale Geschlecht vom biologischen unterschieden. Dennoch wurde erwartet, dass Geschlecht und Gender "ganz natürlich" zusammengehören.
Im Gegensatz zu den Geschlechtern, von denen es nun anerkannte drei gab, wurden den Menschen lediglich zwei Gender zugestanden. Während Frauen automatisch und unwiderruflich dem weiblichen Gender und Männer dem männlichen zugeordnet wurden, erhielten Neugeborene mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen bei der Geburt zunächst ein vorläufiges Geschlecht. Dieses konnten sie im Erwachsenenalter auf Wunsch ändern, wodurch sich dann auch das Gender änderte. Die selbst getroffene Festlegung galt für den Rest des Lebens und beinhaltete ein Leben als Mann oder Frau mit der jeweiligen sozialen Rolle. Auch auf die Partnerwahl und die Sexualität wirkte sich die Wahl aus, denn es dürfte nur jemand vom anderen Gender geheiratet werden. Weiterhin wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Hermaphroditen nur ein Geschlechtsorgan – im Sinne der Heterosexualität – benutzen sollten.
Das 18. Jahrhundert: aus drei werden zwei
Im 18. Jahrhundert geriet das dritte Geschlecht wieder in Vergessenheit, übrig blieben in der öffentlichen Wahrnehmung Männer und Frauen als grundsätzlich verschiedene Geschlechter.
Auch das männliche und weibliche Gender blieb erhalten. In diesem Jahrhundert kam jedoch die Überlegung auf, ob nicht eventuell noch ein drittes Gender existiere. Dieses bezog sich auf Homosexuelle und war mit den zwei anderen Gendern nicht gleichberechtigt. Im Gegenteil, es war illegitim und wurde als psychische Störung eingestuft.
Das 19. Jahrhundert: die Stunde der Naturwissenschaften
Das 19. Jahrhundert wurde maßgeblich durch zwei Dinge geprägt: durch die Medizin und durch den Naturforscher Charles Robert Darwin.
Vor allem die Beiträge zur Evolutionstheorie Darwins waren es, die auf ein reges Interesse in Europa stießen und schließlich ihren Anteil zur Formung des Weltbildes beitrugen. Seine These, männlich und weiblich gäbe es bei allen Lebensformen und Heterosexualität wäre nicht nur eine teleologische Notwendigkeit, sondern auch die höchste Form der Evolution, ist im Hinblick auf das Geschlecht besonders relevant, denn sie festigte sowohl das Zwei-Geschlechtermodell als auch die Heteronormativität.
Die Staatsgründungen dieser Zeit festigten dieses Konzept ebenfalls und versahen es mit einer ideologischen Komponente – basierten die Staaten doch auf einer Volksideologie von heterosexuellen (eindeutigen) Männern und Frauen.
Auch die Mediziner waren als "Kinder ihrer Zeit" von Darwins Thesen und dem im Alltag etablierten Zwei-Geschlechtermodell beeinflusst. Ihr Weltbild wurde jedoch während der Arbeit – namentlich bei Geburten, die mittlerweile mehrheitlich in Krankenhäusern stattfanden – erschüttert, denn sie wurden plötzlich mit einem dritten Geschlecht konfrontiert. Zwar waren Hermaphroditen seit dem 18. Jahrhundert aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung verschwunden, aber natürlich nicht aus der Welt. Man hatte sie nur vergessen. Wie reagierten die Mediziner auf die Wiederentdeckung eines Geschlechtes, das weder eindeutig männlich noch weiblich war?
Man könnte vermuten, dass sie sich ans Werk machten, die Theorie durch die Praxis zu berichtigen. Leider weit gefehlt. Stattdessen waren sie sich weitgehend darin einig, dass es uneindeutige Geschlechtsmerkmale nicht zu geben habe. Darwins These, höhere Spezies unterschieden sich durch eine deutlichere Trennung der Geschlechter von niederen, trug dazu bei, dass schon die bloße Existenz von Menschen mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen als fehlerhaft betrachtet wurde – schließlich galt der Mensch als die höchste Spezies. Diesen, aus Sicht der Mediziner, Fehler der Natur korrigierten sie mittels Operationen. Die Geschlechtszuweisung lag allein in der Kompetenz der Ärzte, den Betroffenen wurde hierbei das Recht auf Selbstbestimmung abgesprochen.
Charles Robert Darwin
Bild: Pixabay
Das 20. Jahrhundert – die Stunde der Sozialwissenschaften
Das beschriebene Zwei-Geschlechtermodell hatte auch im 20. Jahrhundert weiter Bestand und wurde von der Medizin tatkräftig aufrechterhalten, indem Operationen uneindeutiger Geschlechtsmerkmale verfeinert wurden.
Zu einem Stillstand kam es dennoch nicht, denn abgesehen von den Naturwissenschaften befassten sich nun auch die Sozialwissenschaften mit Männern und Frauen. Das Verhältnis zwischen ihnen und die gesellschaftlichen Rollen standen dabei im Vordergrund und warfen neue Fragen auf: Bestimmt das biologische Geschlecht tatsächlich automatisch das Gender? Wie viel davon ist natürlich, wie viel sozial konstruiert? Was genau ist überhaupt Männlichkeit und Weiblichkeit?
Durch weltweite Untersuchungen, hitzige Diskussionen und nach etlichen Theorien kam die Geschlechterforschung zu dem Schluss, dass Männer und Frauen keine homogenen Kategorien mit "natürlichen", angeborenen Gendern sind. Das Geschlecht und seine Bedeutung sowie die Art der Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind vielmehr das Ergebnis kultureller, historischer, ökonomischer und sozialer Prozesse. Wir produzieren und vollziehen die Geschlechtszugehörigkeit zusammen mit jeder menschlichen Aktivität jeden Tag aufs Neue.
Das 21. Jahrhundert – einfach leben (lassen)?
Und was hat sich in der heutigen Zeit, im 21. Jahrhundert, geändert?
Noch immer ist das Modell der zwei Geschlechter dominant, aber ein drittes Geschlecht – nun intersexuell genannt – wird nicht mehr totgeschwiegen und zwangsoperiert. Auch ist man von dem Gedanken abgekommen, dass wir mit einem biologisch vorbestimmten, geschlechtsspezifischen Verhalten auf die Welt kommen. Rollen sind demnach weder angeboren noch starr; und einige Menschen sind es sogar gänzlich leid, sich in eine Geschlechterrolle einordnen zu lassen.
Gender confused?
Bild: Pixabay
Die Erkenntnisse der Geschlechterforschung verließen also ihr wissenschaftliches Umfeld und ermöglichen einen flexiblen Umgang mit Geschlechtern. Auch wenn es nicht jedem gefällt – wir erinnern uns an diese gruselige Sache mit den Bartstoppeln, die einen roten Kussmund umrandeten. Wie die Zeitreise durch die Jahrhunderte zeigt, ist es keine neue Erfindung. Eigentlich ist es ein alter, vergessener Hut, so ähnlich wie bei den Hipstern, die Opas Klamotten neu entdecken.
Es ist witzig, dass gerade diejenigen, die flexible Geschlechter für neumodernen Unsinn halten, gern auf die gute, alte Zeit verweisen, in der noch alles klar war. Wenn die wüssten…
Literatur
Hauser-Schäublin, Brigitta und Birgitt Röttger-Rössler (Hg.): Differenz und Geschlecht. Neue Ansätze in der ethnologischen Forschung. Berlin 1998.
Herdt, Gilbert (Hg.): Third Sex, Third Gender. Beyond sexual Dimorphism in Culture and History. New York 1996.
Lang, Claudia: Intersexualität: Menschen zwischen den Geschlechtern. Frankfurt am Main 2006.
Preves, Sharon E.: Sexing the Intersexed: An Analysis of Sociocultural Responses to Intersexuality, - in: Signs 2002 27/2, S. 523-556.
Roen, Katrina: "Either/Or" and "Both/Neither": Discursive Tensions in Transgender Politics, - in: Signs 2002 27/2, S. 501-522.
Schröter, Susanne: FeMale. Über Grenzverläufe zwischen den Geschlechtern. Frankfurt am Main 2002.